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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély - Kapitel 12
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart (vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität Zürich.
 
Wozu dient der Schlaf?
Versuch einer Synthese
 
Die neu erworbenen Erkenntnisse
sind noch formlos, unvollständig,
es fehlen ihnen die wesentlichen Verbindungsfäden;
an jeder Wegbiegung geben sie irreführende Zeichen ab,
sie sind voller Sackgassen.
Überall gibt es faszinierende Ideen,
zahllose unwiderstehliche Experimente,
allerhand neue Zugänge zum Labyrinth der Probleme.
Doch jeder neue Schritt ist unvorhersehbar,
jedes neue Resultat ungewiß.
Wir leben in einer verwirrenden Zeit
und doch in einer sehr guten Zeit.
Lewis Thomas
 
 
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Schlafen wir, weil wir lange wach waren?
 
Wie jedermann weiß, nimmt das Schlafbedürfnis mit fortdauernder Wachzeit zu. Wer lange nicht geschlafen hat, braucht sich nur hinzusetzen, um sofort einzunicken. Nach Schlafeintritt nimmt das Schlafbedürfnis sukzessive ab. Zu Beginn ist der Schlaf tief, wird aber in den folgenden Stunden oberflächlicher. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß Bewegungen im Schlaf mit fortschreitender Schlafdauer häufiger werden. Wie wir bereits gesehen haben, ist das Vorherrschen jener langsamen EEG-Wellen, die für das Tiefschlaf-Stadium (Stadium 3 und 4) charakteristisch sind, ein guter Indikator für die Schlaftiefe im Non-REM-Schlaf. Die langsamen Wellen beherrschen vor allem im ersten Non-REM-/REM-Schlaf-Zyklus das Bild und werden dann von Zyklus zu Zyklus spärlicher. Nach Schlafentzug ist ihr Anteil deutlich erhöht (Kapitel 10). Dieser EEG-Parameter scheint also die von der vorangegangenen Wachdauer bestimmte Schlafbereitschaft anzuzeigen. Legt man sich nach einer durchschlafenen Nacht vormittags nochmals nieder, so tritt dann auch weniger Tiefschlaf auf, als wenn man sich am Nachmittag zu Bett begibt. Andererseits bewirkt der Schlaf tagsüber, daß der Tiefschlafanteil in der folgenden Nacht herabgesetzt ist.
 
Womit hängt nun die sukzessive Erhöhung des Schlafbedürfnisses tagsüber und die damit einhergehende Tiefschlaftendenz zusammen? Ist beispielsweise die körperliche Betätigung tagsüber eine wichtige Ursache? Diese Frage wurde schon verschiedentlich experimentell untersucht. So registrierte man beispielsweise den Schlaf von Marathonläufern, um die Auswirkung einer großen physischen Anstrengung zu bestimmen. Insgesamt betrachtet bleiben aber die Ergebnisse solcher Studien widersprüchlich. In einigen Untersuchungen wurde eine Korrelation zwischen körperlicher Betätigung und nachfolgendem Tiefschlaf gefunden, in der Mehrzahl der Fälle jedoch nicht.
 
Zusammen mit Mehmet Hanagasioglu sind wir dieser Frage im Tierversuch nachgegangen. Bei Ratten wurden mit permanent implantierten EEG- und EMG-Elektroden über einen Miniaturradiosender die Hirnströme und die Spannung der Nackenmuskulatur kontinuierlich registriert. Die Ratten konnten sich im Käfig frei bewegen und hatten außerdem Zugang zu einem Laufrad. In der aktiven Periode des Schlaf-Wach-Rhythmus legten sie im Laufrad bis zu 7 km pro Nacht zurück. Als wir den Tieren während zwei Tagen den Zugang zum Rad versperrten, schränkte dies ihre Aktivität stark ein. Dabei zeigte sich, daß sich der Tiefschlafanteil praktisch nicht veränderte. Im Gegensatz dazu bewirkte ein Schlafentzug von zwölf bis vierundzwanzig Stunden eine massive Zunahme des Tiefschlafanteils sowie der langsamen Wellen im EEG (Kapitel 10). Diese Befunde weisen darauf hin, daß die Erhöhung der Schlafbereitschaft vor allem durch die Dauer des Wachzustandes und nicht durch eine bestimmte Tätigkeit im Wachen bedingt ist.
    
 
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Schlafen wir, weil es Zeit ist?
 
Bei Experimenten mit längerem Schlafentzug wurde immer wieder beobachtet, daß es den Versuchspersonen in den frühen Morgenstunden ganz besonders schwerfiel, wachzubleiben. Das Schlafbedürfnis schien ihnen zu diesem Zeitpunkt fast unüberwindlich zu sein. War diese kritische Periode einmal überstanden, dann machte es weniger Mühe wachzubleiben.
 
Abbildung 12.1 illustriert einen Versuch der schwedischen Forscher Torbjörn Åkerstedt und Jan Fröberg, in welchem fünfzehn Versuchspersonen während drei Tagen wach bleiben mußten. Alle drei Stunden schätzten die Versuchsteilnehmer ihre Müdigkeit auf einer Meßskala ein und drückten sie bezogen auf ihren Normwert (=100%) aus. Die Kurve der Mittelwerte zeigt eindrücklich tagesrhythmische Schwankungen. Die Müdigkeit war jeweils am Nachmittag minimal und zeigte ein Maximum in den frühen Morgenstunden. Auch in anderen, ähnlichen Experimenten, in welchen die Müdigkeit im Laufe des dreitägigen Schlafentzuges deutlicher anstieg, traten die tagesrhythmischen Schwankungen klar in Erscheinung.
 
Es ist interessant, daß der Rhythmus der Schlafbereitschaft spiegelbildlich zu jenem der Körpertemperatur verläuft. Die Schlaftendenz ist hoch, wenn die Körpertemperatur an ihrem Tiefpunkt angelangt ist, und sie ist klein, wenn die Temperatur ihr Maximum erreicht. Diese Beobachtungen machen, wie bereits in Kapitel 11 erwähnt, deutlich, daß die Schlafbereitschaft nicht bloß von der im Wachen verbrachten Zeitdauer abhängt, sondern auch stark von einem, von Schlafen und Wachen unbeeinflußten tagesrhythmischen Vorgang bestimmt wird. Auf dem Zifferblatt unserer »inneren Uhr« ist die Zeit des Schlafens offenbar vorbestimmt.
 
Abb. 12.1: Tagesrhythmus der Müdigkeit bei 72 Stunden Schlafentzug. Versuchspersonen verbrachten 72 Stunden ohne Schlaf und stuften alle 3 Stunden ihre Müdigkeit auf einer Skala ein, wobei ihre normale Müdigkeit (=100%) als Bezugswert diente. Das Müdigkeitsgefühl war jeweils in den frühen Morgenstunden am größten, in den Nachmittagsstunden am geringsten. Die Kurve beruht auf Mittelwerten von 15 Versuchspersonen. (Nach einer Arbeit von Åkerstedt und Fröberg, 1977.) (27k JPG file)
 
 
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Zwei Schlafprozesse - ein Modell der Schlafregulation
 
Sowohl die vorangehende Wachzeit als auch ein circadianer Vorgang sind also für die Schlafregulation verantwortlich. Wie diese beiden Faktoren zusammenwirken, ist auf Abbildung 12.2 als Modell dargestellt. Prozeß S entspricht der vom Schlaf-Wach-Verhalten abhängigen Schlafbereitschaft beziehungsweise der Schlaftiefe. Die Kurve steigt also in der Wachzeit an (zunehmende Schlafbereitschaft) und fällt während des Schlafes ab (abnehmender Tiefschlafanteil). Prozeß C entspricht dem circadianen Rhythmus der Schlafbereitschaft, der von der vorausgegangenen Schlaf- oder Wachdauer unabhängig ist. Sie ist um 4.00 Uhr morgens, zur Zeit, da es besonders schwerfällt, wachzubleiben, am höchsten und um 16.00 Uhr nachmittags am tiefsten. Die auf der Abbildung dargestellte Kurve © zeigt allerdings nicht den Prozeß C selbst, sondern sein Spiegelbild. Die Kurve © kann als Schwellenwert des Aufwachens betrachtet werden, dessen tiefster Wert somit dem Maximum der Schlafbereitschaft entspricht. Im Modell nehmen wir an, daß Prozeß C nicht nur durch die »innere Uhr«- bestimmt wird, sondern auch durch äußere Reize beeinflußt werden kann. So kann zum Beispiel ein langweiliger Vortrag die Schlaftendenz erhöhen, ein aufregender Film jedoch den Schlafeintritt verzögern. Entsprechend dem Modell ergibt sich die effektive Schlafbereitschaft aus der Summe der Prozesse S und C, was der Differenz (also dem Zwischenraum) der Kurven S und © entspricht. Verfolgen wir nun auf der Abbildung den Verlauf dieser Differenz nach dem Aufwachen um 7.00 Uhr. Die Kurven liegen am Morgen und Vormittag nahe beisammen, das Schlafbedürfnis ist somit klein. Am Nachmittag wird der Zwischenraum zunehmend größer, bis er zur Einschlafzeit (23.00 Uhr) das Maximum erreicht. Im Laufe des Schlafes verringert sich die Differenz der beiden Kurven fortlaufend, um schließlich mit der Aufwachzeit (7.00 Uhr) ganz zu verschwinden.
 
Der untere Teil der Abbildung 12.2 zeigt die Verhältnisse, wenn man in einer Nacht und am folgenden Tag nicht schläft. Da der Schlaf nicht, wie üblich, um 23.00 Uhr eintritt, steigt Prozeß S weiter an. Die Differenz zwischen S und © erreicht morgens um 4.00 Uhr, zur Zeit der »Krise«, ein erstes Maximum. In den folgenden Stunden nähern sich die beiden Kurven wieder, das Schlafbedürfnis wird somit kleiner. Beim Einschlafen am folgenden Abend um 23.00 Uhr hat S einen hohen Wert erreicht.
 
Die große Differenz der Kurven entspricht einem tiefen Schlaf während der ersten Schlafphase, in welchem langsame EEG-Wellen vorherrschen. Weil indessen S nicht gradlinig, sondern kurvenförmig (exponentiell) abfällt, ist die Schlafdauer im Vergleich zum Normalschlaf nur wenig verlängert. Das beschriebene Modell erklärt auch experimentelle Befunde, wonach Versuchspersonen trotz einer durchwachten Nacht am nächsten Vormittag nur kurz schlafen können.
 
Während der Tiefschlafanteil hauptsächlich von der vorangehenden Wachzeit abhängt, wird der REM-Schlaf weitgehend vom circadianen Rhythmus bestimmt. Dementsprechend wird im Modell angenommen, daß die REM-Schlaf-Bereitschaft vor allem durch den Prozeß C beschrieben wird. In der hier nicht weiter beschriebenen, ausführlicheren Darstellung des Modells wurde angenommen, daß sich REM-Schlaf und Non-REM-Schlaf gegenseitig hemmen. Durch die Voraussetzung einer bestimmten Interaktion beider Vorgänge läßt sich erklären, wie es zu einem zyklischen Auftreten dieser beiden Stadien kommt. Serge Daan und Domien Beersma von der Universität Groningen haben aufgrund ähnlicher Annahmen ein Computermodell der Schlafregulation entwickelt und gezeigt, daß auch die typischen, schon beschriebenen Veränderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus (Kapitel 11) in »zeitfreier« Umgebung (z. B. interne Desynchronisation, Periodenlänge von 50 Stunden) simuliert werden können.
 
Das hier dargestellte Modell ist natürlich nur als Arbeitshypothese gedacht, die der Komplexität der Schlafregulationsmechanismen sicher nicht gerecht wird. Es ist anzunehmen, daß diese Vorstellungen ergänzt und modifiziert werden müssen. Wichtig ist indessen, daß das Modell einerseits auf schon vorhandenen Versuchsergebnissen beruht und andererseits Voraussagen erlaubt, die experimentell überprüft werden können. Gewisse Hinweise auf mögliche biologische Mechanismen, die den beiden Prozessen zugrunde liegen könnten, sind bereits vorhanden. So würde der Anstieg von Prozeß S im Wachen und sein Abfall im Schlaf den Schwankungen einer körpereigenen Schlafsubstanz gut entsprechen, wie dies von Piéron und seinen Nachfolgern postuliert wurde (Kapitel 9). Prozeß C könnte die Tätigkeit der »inneren Uhr«, die vielleicht in den suprachiasmatischen Kernen des Zwischenhirns zu suchen ist (siehe Kapitel 11), widerspiegeln, die nicht nur den Schlaf, sondern auch andere rhythmische Prozesse (z. B. Körpertemperatur, Cortisol) reguliert. Wesentlich ist dabei, daß im Gegensatz zur Hypothese anderer Autoren, das vorliegende Modell mit einem einzigen circadianen Oszillator auskommt.
 
Abb. 12.2: Ein Modell der Schlafsteuerung. Es wird angenommen, daß der Schlaf durch das Zusammenwirken von Prozeß S und Prozeß C zustande kommt. Das vom Schlaf-Wach-Verhalten abhängige S steigt im Wachen an und sinkt im Schlaf ab. Prozeß C ist ein durch die innere Uhr gesteuerter, tagesperiodischer (circadianer) Vorgang, der unabhängig von Schlafen und Wachen abläuft. Die negative Funktion von C, durch die Kurve © dargestellt, kann als die tagesperiodisch variierende Aufwachschwelle betrachtet werden, wobei der »Schlafdruck« dem Abstand zwischen den Kurven S und © entspricht. Während des Schlafentzuges steigt S weiter an. Der anschließende Erholungsschlaf ist intensiver, aber nicht viel länger als der gewöhnliche Schlaf. Etwas vereinfachend kann Prozeß S mit einer Sanduhr verglichen werden, die beim Einschlafen und Aufwachen jeweils umgedreht wird, während die vom Schlaf-Wach-Vorgang unabhängigen Schwingungen von Prozeß C den Zeigerumdrehungen einer Uhr entsprechen. (25k JPG file)
   
 
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Schlafregulation und Depression
 
Wir haben schon in anderem Zusammenhang gesehen, daß bei endogen depressiven Patienten der Schlaf in der Regel gestört ist und daß paradoxerweise gerade Schlafentzug das Krankheitsbild verbessern kann. Ausgehend vom beschriebenen Modell der Schlafregulation wollen wir uns nun den Mechanismen zuwenden, die den Beziehungen zwischen Schlaf und Depression zugrundeliegen könnten. Zusammen mit Anna Wirz-Justice, Neurochemikerin und Rhythmusforscherin an der Universität Basel, nehmen wir an, daß der vom Schlafen und Wachen abhängige Prozeß S bei endogen Depressiven beeinträchtigt sein kann, und daher im Verlaufe der Wachzeit nicht auf das normale Niveau ansteigt (Abbildung 12.3). Die sich daraus ergebende kleinere Differenz zwischen den Kurven S und © hätte demnach eine verringerte Schlafbereitschaft zur Folge. Aufgrund dieser Annahme lassen sich die bei der Depression typischerweise auftretende Einschlafstörung sowie das häufige Erwachen nachts erklären. Da andererseits die Kurven S und © früher als normalerweise zusammenlaufen, kommt es zu einer verkürzten Schlafdauer. Vorzeitiges Erwachen ist ebenfalls eine bei Depressiven häufig auftretende Schlafstörung.
 
Wie steht es nun aber mit der Schlafentzugtherapie? Um ihre therapeutische Wirkung zu erklären, machen wir die Zusatzannahme, daß das abnorm tiefe Niveau von Prozeß S sich nicht nur auf den Schlaf auswirkt, sondern auch mit den depressiven Symptomen in einem ursächlichen Zusammenhang steht. Eine solche Beziehung würde auch erklären, weshalb die Depression morgens nach dem Erwachen (am Tiefpunkt von Prozeß S) oft besonders gravierend ist und sich im Laufe des Tages bessert. Entsprechend dieser Hypothese würde Schlafentzug (siehe Abbildung) ein Ansteigen von Prozeß S auf ein höheres Niveau bewirken. Aufgrund unserer Zusatzannahme wäre die zunehmende Normalisierung von Prozeß S die Grundlage für die antidepressive Wirkung des Schlafentzugs. Sie ist indessen nicht von langer Dauer, führt doch gewöhnlich bereits die erste Schlafperiode (d. h. der Abfall von Prozeß S auf ein tiefes Niveau) zum Rückfall in die Depression.
 
Zusammen mit David Kupfer, Psychiater und Schlafforscher an der Universität Pittsburgh, und seiner Arbeitsgruppe haben wir kürzlich das Schlaf-EEG von Depressiven analysiert und Ergebnisse erhalten, die mit einer Beeinträchtigung von Prozeß S gut erklärbar sind. Die Hypothese wird nun auch von anderen Arbeitsgruppen überprüft. Sollte sich herausstellen, daß die für die Depression gemachte Annahme im Modell mit den Beobachtungen nicht übereinstimmt, müßten weitere Varianten in Betracht gezogen werden. Wichtig ist trotzdem, daß das Modell der Schlafregulation, das wir für den Normalschlaf entwickelt haben, auch zur Erklärung krankheitsbedingter Veränderungen herangezogen werden kann.
 
Abb. 12.3: Schlaf, Schlafentzug und Depression. Ein Erklärungsversuch für den gestörten Schlaf bei der Depression und für die antidepressive Wirkung von Schlafentzug. Die Darstellung geht vom Modell der Schlafsteuerung aus (Abb. 12.2). Es wird angenommen, daß bei Depressiven Prozeß S weniger ansteigt als bei Gesunden. Die typischen Schlafstörungen bei der Depression können als Folge des kleineren Abstandes zwischen den Kurven S und © erklärt werden. Während des Schlafentzugs normalisiert sich der Abstand, was - gemäß der Hypothese - zur Folge hat, daß sich die Depression bessert. Die Wirkung ist allerdings nur von kurzer Dauer, da schon nach der folgenden Schlafperiode der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt ist. (41k JPG file)
   
 
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Ein Blick in die Vergangenheit
 
Wenn man bei der Erforschung biologischer Vorgänge bei hochentwickelten Lebewesen nicht mehr weiterkommt, ist es oft ratsam, die Entwicklungsgeschichte genauer zu betrachten. Hilft uns dieser Weg auch, die Steuerung des Schlafs zu verstehen?
 
Im beschriebenen Modell setzen wir zwei getrennte Prozesse voraus: Prozeß C, die Grundlage der circadianen Schlafbereitschaft, läßt sich bis zu den einfachsten Lebewesen zurückverfolgen. Wie schon erwähnt (Kapitel 7.11), sind circadiane Rhythmen im Pflanzen- und Tierreich weit verbreitet und kommen sogar bei einzelligen Organismen vor. Circadiane Ruhe-Aktivitäts-Rhythmen, die unabhängig von Zeitgebern aus der Umwelt fortbestehen, sind beispielsweise bei Mollusken und Insekten beschrieben worden (Kapitel 7). Bei diesen Lebewesen, deren Nervensystem anders aufgebaut ist als jenes der Wirbeltiere, läßt sich der Schlaf natürlich nicht durch EEG-Kriterien definieren. Der circadiane Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus könnte, wie schon früher angedeutet, einen Vorläufer der Schlaf-Wach-Rhythmik darstellen. Das frühe Auftreten circadianer Rhythmen in der Entwicklungsgeschichte sowie ihre weitere Verbreitung sind ein Anhaltspunkt dafür, daß die Anpassung an die 24-Stunden-Rhythmik für das Überleben von Lebewesen sehr wichtig gewesen ist. Circadiane Rhythmen bieten allerdings nicht nur Vorteile, denn sie sind oft allzu starr vorprogrammiert und passen sich nur langsam an veränderte Gegebenheiten an. Es liegt daher nahe anzunehmen, daß sich ein zusätzlicher Prozeß (Prozeß S) entwickelt hat, der Ruhe und Aktivität nicht aufgrund eines fixen zeitlichen Programms, sondern abhängig von der unmittelbaren Vorgeschichte steuert. Dieser neue Prozeß der Schlafregulation hat zweifellos die Flexibilität und Anpassungsmöglichkeit der Lebewesen beträchtlich erhöht. Die Entwicklung des Schlafes eröffnete also die Möglichkeit, sich dem unerbittlichen Diktat der »inneren Uhr« zu entziehen, ohne auf ihre Vorteile völlig verzichten zu müssen.
 
Nehmen wir nun aufgrund dieser Überlegungen die einzelnen Schlafstadien etwas genauer unter die Lupe. Den REM-Schlaf möchte man als einen »primitiven« Schlaftyp einstufen, da er zum großen Teil durch circadiane Faktoren bestimmt wird. Mit dieser Annahme würde übereinstimmen, daß er relativ grob reguliert wird. Das kommt darin zum Ausdruck, daß Schlafentzug während einer Nacht oder zusätzlicher Schlaf tagsüber den REM-Schlaf nicht verändern. Erst ein massives REM-Schlaf-Defizit verlängert den REM-Schlaf.
 
Im Gegensatz dazu unterliegt der Tiefschlaf einer feinen Regulation. Er wird praktisch nicht durch circadiane Faktoren beeinflußt, reagiert aber außerordentlich präzis auf Veränderungen der vorangegangenen Wachdauer. Schlafentzug führt zur Erhöhung des Tiefschlafanteils, verlängerter Schlaf am Morgen oder zusätzlicher Schlaf tagsüber führen zu einer Tiefschlafverminderung in der folgenden Nacht. Erinnern wir uns hier, daß die langsamen EEG-Wellen im Non-REM-Schlaf für den Tiefschlafanteil bestimmend sind. Aus diesem Grunde müssen Kompensationsreaktionen des Tiefschlafs nicht mit Veränderungen der Schlafzeit einhergehen. Die langsamen Wellen können als eine Intensitätsdimension des Non-REM-Schlafs betrachtet werden, für welche es im REM-Schlaf keine Entsprechung gibt. Die Kompensation eines REM-Schlafdefizits ist daher gleichbedeutend mit einer Verlängerung der REM-Schlafdauer. Das heißt, daß das Nachholen verlorenen REM-Schlafs auf Kosten anderer Schlafstadien oder sogar der Wachzeit erfolgen muß, ein Umstand, der für ein Lebewesen nachteilig ins Gewicht fallen kann.
 
Die Annahme, der REM-Schlaf stelle einen »primitiven« Schlaftyp dar, wird auch durch die Tatsache gestützt, daß sich die für den REM-Schlaf verantwortlichen Nervenzellen im entwicklungsgeschichtlich alten Hirnstamm befinden. Die für den Tiefschlaf verantwortlichen Strukturen scheinen dagegen eher in »neueren« Vorderhirnstrukturen zu liegen. Schließlich tritt der REM-Schlaf auch in der Entwicklung des Individuums viel früher in Erscheinung als der Tiefschlaf. Trotzdem muß vor einer allzu wörtlichen Interpretation des entwicklungsgeschichtlichen Aspektes gewarnt werden, da sich im Schlaf einfacherer Tierarten die für die Säuger typischen Schlafstadien nicht immer eindeutig identifizieren lassen.
      
 
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Das Rätsel des REM-Schlafs
 
Seit der Entdeckung des REM-Schlafs gibt es zahlreiche Erklärungsversuche für dieses eigenartige Schlafstadium. Anfänglich stand der früher überschätzte Zusammenhang zwischen REM-Schlaf und Traumerleben im Vordergrund. Wie bereits ausgeführt, zeigte sich bald, daß Träume nicht ausschließlich auf den REM-Schlaf beschränkt sind und daß dieses Stadium nicht mit »Traumschlaf« gleichgesetzt werden kann.
 
Eine andere interessante Hypothese basiert vor allem auf dem Vorherrschen dieses Schlafstadiums in den frühen Lebensjahren bei Menschen und Tieren. Es gibt Hinweise, daß Säugetiere vor der Geburt einen großen Teil ihrer Zeit in einem dem REM-Schlaf ähnlichen Zustand verbringen. Jouvet hat aufgrund dieses Befundes angenommen, der REM-Schlaf diene der Programmierung von Vorgängen im Gehirn, die zur Entwicklung und Aufrechterhaltung genetisch bedingter Funktionen, zum Beispiel von Instinkthandlungen, notwendig sind. Gemäß dieser Hypothese entsteht während des REM-Schlafs im Gehirn ein von der Außenwelt unabhängiges sensorisches Aktivitätsmuster - die Träume, sowie ein motorisches Muster, das jedoch infolge der starken Hemmung der Willkürmuskulatur nicht offen als Verhalten zum Ausdruck kommt. Wie bereits erwähnt, konnte in Experimenten gezeigt werden, daß es nach Wegfall dieser Hemmung tatsächlich zu stark emotional gefärbten Verhaltensweisen im REM-Schlaf kommt. Jouvet nimmt nun an, daß die im REM-Schlaf auftretende phasische Aktivität der Nervenzellen, die mit Elektroden in tiefen Hirnstrukturen registriert werden kann und nach außen als sporadische rasche Augenbewegungen in Erscheinung tritt, einen Code darstellt, der in Genen gespeicherte Information aktivieren kann. Diese würde vor allem angeborenem Instinktverhalten entsprechen, das im REM-Schlaf gleichsam »eingeübt« und mit erworbener Information in Verbindung gebracht wird. Leider ist es schwierig, diese interessante Hypothese durch spezifische Experimente zu überprüfen.
 
Andere Autoren sehen im REM-Schlaf ein Stadium, das spezifische Erholungsvorgänge im Gehirn ermöglicht. Es gibt jedoch wenig Anhaltspunkte für diese These. Der amerikanische Schlafforscher Fred Snyder vertritt die sogenannte »Wächter-Hypothese« (sentinel hypothesis). Sie besagt, daß das wachähnliche REM-Schlaf-EEG sowie das am Ende von REM-Schlafperioden oft erfolgende kurze Erwachen es Lebewesen ermöglicht, ihre Umgebung periodisch zu überwachen. Doch auch dieser Erklärungsversuch läßt sich schwer überprüfen. Einen extremen Standpunkt vertritt der englische Schlafforscher Ray Meddis mit seiner Annahme, der REM-Schlaf sei ein evolutionäres Relikt aus der Entwicklungsstufe der Reptilien und erfülle bei Säugern überhaupt keine Funktion mehr. Weitere Hypothesen wurden bereits in Kapitel 4 besprochen.
 
Aus so verschiedenartigen Vorschlägen wird deutlich, wie rätselhaft die Funktion des REM-Schlafes nach wie vor ist. Welchen Wert die bisherigen Annahmen haben, muß durch weitere Experimente geklärt werden. Vielleicht werden aber auch erst ganz andere Erklärungsversuche die Bedeutung dieses faszinierenden Schlafstadiums erhellen können.
      
 
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Schlußbetrachtungen
 
Wenn wir auch die Frage nach der Bedeutung des Schlafs nicht beantworten können, so gibt es doch einige Überlegungen, die gewisse erste Anhaltspunkte liefern. Der Schlafvorgang kann als Anpassung an äußere und innere Gegebenheiten betrachtet werden. Durch die »erzwungene Ruhe« hilft er, Gefahren zu vermeiden, die von der unbelebten (z. B. Dunkelheit, Kälte) und belebten Umwelt (z. B. Raubtiere) drohen. Die Tagesperiodik des Schlafs bedingt aber auch, daß ein Tier sein Versteck erst zu einer für es günstigen Tageszeit verläßt. So sind viele Nagetiere nachts aktiv und schlafen tagsüber, wenn sie von ihren Feinden besonders stark gefährdet sind, in ihren Verstecken. Raubtiere müssen sich andrerseits an die Schlafgewohnheiten der Beutetiere anpassen, um sie zu erjagen. Im Unterschied zur Beute von Raubtieren ist die Nahrung von Pflanzenfressern Tag und Nacht gleichermaßen verfügbar, so daß die Beschränkung des Schlafs auf eine bestimmte Tageszeit wenig Vorteile bringen würde. Die kurzen Schlafperioden gewisser Herdentiere, wie etwa der Kühe und Schafe, sind denn auch über den ganzen Tag verteilt. Wie der amerikanische Schlafforscher Wilse Webb ausführt, ist dieses Verhalten auch deshalb sinnvoll, weil sich die Tiere meist auf offener Weide bewegen, wo sich wenig Verstecke bieten. Allerdings zwingt auch die Beschaffenheit der pflanzlichen Nahrung die Tiere zum fast ununterbrochenen Fressen. Der Umstand, daß sich die Tiere in Herden bewegen, erhöht wohl ihre Sicherheit während des Schlafs, da einige Tiere jederzeit wach sind und das Herannahen von Feinden rasch bemerken können. Dennoch ist es eindrucksvoll, zu beobachten, daß selbst äußerst bedrohte, wildlebende Herdentiere, wie zum Beispiel die Gazellen, schlafen. Offenbar können Tiere zwar ihren Schlaf auf ein Minimum reduzieren, aber dennoch nicht ganz ohne ihn auskommen. Dies gilt auch für den Delphin, der sich ständig im Wasser bewegt. Wie wir bereits gesehen haben, hat er den Schlaf auf eine äußerst originelle Art seinen Bedürfnissen angepaßt, indem er jeweils nur mit einer Hirnhälfte schläft.
 
Der Schlaf kann aber auch als ein Anpassungsvorgang an die inneren Gegebenheiten des Organismus betrachtet werden. Im Schlaf ist der Energieverbrauch durch die Herabsetzung des Stoffwechsels und der Wärmeabgabe reduziert. Die Inaktivität schlafender Lebewesen kann also als eine Sparmaßnahme mit Rücksicht auf die begrenzten Energiereserven verstanden werden, die sich bei dauernder Aktivität schnell erschöpfen würden.
 
Nicht nur bei Tieren, sondern auch beim Menschen beobachten wir die Anpassung des Schlafs an äußere und innere Gegebenheiten. Die in den südlichen Ländern verbreitete Siesta ist ein gutes Beispiel für die Möglichkeit, das Schlaf-Wach-Verhalten mit den klimatischen Bedingungen optimal in Übereinstimmung zu bringen. Der Schlaf dient aber zweifellos auch zur Verhütung von Erschöpfung, die als Folge allzulanger Wachaktivität auftreten könnte. Ähnlich wie wir gewohnheitsmäßig zu bestimmten Zeiten essen, um Hunger zu vermeiden, hat wohl auch der gewohnheitsmäßige Schlaf eine entsprechend präventive Funktion.
 
Würden wir aber den »Mann von der Straße« nach dem Sinn des Schlafs fragen, so wäre seine Antwort weder »Anpassung« noch »Vorsorge«, sondern »Erholung«. Diese Antwort gründet natürlich auf der täglichen Erfahrung, daß wir uns abends müde zu Bett begeben und am folgenden Morgen frisch und erholt aufwachen. Aber so selbstverständlich dieser Vorgang aus subjektiver Sicht erscheint, so wenig läßt er sich wissenschaftlich belegen oder erklären. Im Jahre 1932 schrieb W. R. Hess: »Die speziellen Mechanismen, die im Schlaf Erholung bringen, sind in den Geweben verborgen und noch nicht vollständig erklärbar. Obwohl sich ihre Existenz bloß aus ihren Wirkungen ableiten läßt, bilden sie das Kernproblem des Schlafes. Das Ruhen der Sinnesorgane, Muskeln und psychischer Funktionen sind nur sekundäre Faktoren, welche die Erholung in den Geweben ermöglichen.«[47] Heute, ein halbes Jahrhundert später, sind wir der Lösung dieses Kernproblems noch kaum nähergekommen. Wir haben zwar einige Hinweise dafür, daß im Schlaf Aufbauprozesse vor sich gehen können. Die hohe Konzentration des Wachstumshormons zu Schlafbeginn sowie die niedrige Konzentration des an Abbauvorgängen beteiligten Hormons Cortisol sprechen für diese Annahme. Die entscheidenden Erholungsmechanismen sind indessen nach wie vor verborgen. So unterscheidet sich denn auch die Schlafforschung von den meisten anderen Forschungsdisziplinen darin, daß nicht nur der zu erforschende Vorgang selbst, sondern auch dessen Funktion völlig im Dunkeln liegen. Licht in diese Dunkelheit zu bringen ist eines der Hauptziele der Schlafforschung.
 
Noch ein weiterer Gesichtspunkt ist bemerkenswert. Im Unterschied zu anderen medizinischen Forschungsdisziplinen, wie etwa der Kreislauf- und Krebsforschung, ist die Erforschung des Schlafs nicht auf das Verhüten und Behandeln lebensbedrohender Krankheiten ausgerichtet, sondern auf das Verständnis eines natürlichen, ja fast trivialen Vorgangs. Störungen des Schlafs bedeuten zwar meist keine akute Gefährdung von Gesundheit und Leben, können aber trotzdem das Wohlbefinden und die Lebensqualität beträchtlich vermindern. Von den Erkenntnissen der Schlafforschung sind daher keine sensationellen neuen Heilmethoden zu erwarten, aber vielleicht Rat und Hilfe für jene Millionen von Menschen, die Nacht für Nacht vergeblich auf den erholsamen Schlaf warten. In diesem Sinne kann man die Schlafforschung als eine »sanfte« medizinische Forschungsdisziplin bezeichnen.
 
Abschließend möchte ich betonen, daß es in der Schlafforschung nicht nur um Entdecken, Verstehen und Kontrollieren geht. Bei seinen Versuchen steht der Schlafforscher mit einem grundlegenden und umfassenden Lebensvorgang in Kontakt, eine Erfahrung, die immer wieder beeindruckend ist. Nacht für Nacht dem Schlaf zu begegnen, der so selbstverständlich erscheint und von dessen wirklichem Verständnis wir noch so weit entfernt sind, mahnt zur Bescheidenheit. Auch wenn wir versuchen, das Geheimnis des Schlafs mit naturwissenschaftlichen Methoden zu ergründen, sollten wir uns vor jenem maßlosen Anspruch der Forschung hüten, auf den der Philosoph Martin Heidegger hingewiesen hat: »Insgleichen kann die Unverborgenheit, dergemäß sich die Natur als ein berechenbarer Wirkungszusammenhang von Kräften darstellt, zwar richtige Feststellungen verstatten, aber gerade durch diese Erfolge Gefahr bleiben, daß sich in allem Richtigen das Wahre entzieht.« [48]
 
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