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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély - Kapitel 4
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart (vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität Zürich.
 
Träumen
 
Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte,
und man gäbe ihm zum Beweis,
daß er darin gewesen ist, eine Blume mit
und er sähe beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand
was wäre daraus zu schließen?
S. T. Coleridge
 
 
 
Träume haben den Menschen seit jeher fasziniert und beunruhigt. Mit der Entdeckung des REM- Schlafs und den damit verbundenen Traumerlebnissen hat eine neue Ära der Traumforschung begonnen. Aber die reduktionistische Methode der Naturwissenschaft birgt die Gefahr einer zu einfachen Interpretation der Ergebnisse in sich, von der auch die Traumforschung nicht verschont geblieben ist. Wir werden uns in diesem Kapitel zunächst mit einigen allgemein beschreibenden Aspekten des Traumes befassen, um dann Fragen nach der Entstehung und dem Sinngehalt von Träumen anzugehen. Dabei werden wir uns nicht auf die experimentelle Forschung beschränken können, sondern das Thema in einem weiteren Kontext betrachten.
 
 
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Der »gewöhnliche« Traum
 
Wenn wir von Träumen reden, kommen uns in erster Linie die ungewöhnlichen, phantastischen Eigenschaften des Traumgeschehens in den Sinn. Im Traume begegnen uns Personen, die längst verstorben sind. Wir befinden uns unversehens in fernen Ländern. Tiere sprechen zu uns, und wir selbst sind im Besitz von Fähigkeiten, die uns im Wachen völlig unmöglich erscheinen. Würde uns jemand von ähnlichen Erlebnissen im Wachen berichten, so müßten wir an seinem Verstand zweifeln.
 
Versuchen wir vorerst die wichtigsten Eigenschaften des Traumes näher zu umschreiben. Der Träumer befindet sich in einer Umgebung, die oft plötzlich in eine andere übergeht, sich zuweilen aber auch allmählich ändert. Szenen und Personen aus der Vergangenheit tauchen auf. Das Raum- Zeit-Gefüge ist im Traum offenbar gelockert. Eine weitere, wichtige Eigenheit des Traumes ist sein zwingender Charakter. Unsere Aufmerksamkeit wird von bestimmten Handlungen oder Objekten gefangengenommen, wir können uns von ihnen nicht lösen, um unser Augenmerk auf etwas anderes zu richten. Der amerikanische Schlafforscher Allan Rechtschaffen sagte paradox, aber treffend, dem Traum mangle es an Phantasie. Im Traume kommen uns nicht wie bei Tätigkeiten im Wachen andere Dinge in den Sinn. Die Traumbilder füllen den Traum völlig, und es bleibt kein Platz für andere »Träumereien«. Diese »Eingleisigkeit« des Traumes bewirkt die eigentümliche Abgeschlossenheit seiner Welt. Obschon andere Personen vorkommen, sind wir im Traum doch grundlegend allein und können niemandem unsere Erfahrungen mitteilen. Wir sind dem Erlebten unmittelbar ausgesetzt, können es nicht überdenken oder kritisch werten. Dies führt dazu, daß wir die unglaublichsten Begebenheiten ohne Überraschung hinnehmen und uns im Traume nicht an den Kopf greifen und sagen: »Das ist doch unmöglich!«
 
Der folgende Traumbericht aus dem alten China illustriert treffend die paradoxe Geschlossenheit der Traumwelt:
 
Ich, Chuang Tzu, träumte einmal, ich sei ein Schmetterling, der hierhin und dahin flatterte, in jeder Beziehung und Hinsicht ein Schmetterling. Ich war mir nur über mein Schmetterlings-Dasein bewußt und nicht über meine menschliche Existenz. Plötzlich erwachte ich und lag nun da, wiederum als das gewohnte Ich. Ich weiß jetzt aber nicht, ob ich ein Mensch war, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder ob ich ein Schmetterling bin, der träumt, er sei ein Mensch. [13]
 
Im allgemeinen entschwindet die Traumwelt nach dem Erwachen und hinterläßt höchstens eine blasse Erinnerung. Oft wissen wir morgens nur noch, daß wir geträumt haben, aber des Inhaltes entsinnen wir uns nicht. Bedenkt man, daß jede Nacht ein bis zwei Stunden im REM-Schlaf verbracht werden, in welchem Traumerlebnisse sehr häufig sind, dann ist es beeindruckend, in welchem Ausmaße die Erinnerung an dieses Geschehen verloren geht. Doch selbst wenn wir aus einem Traum erwachen und die eben im Traum erlebten Bilder noch deutlich vor Augen haben, ist eine getreue Beschreibung schwierig und bleibt meist unbefriedigend. Auch wenn wir den Ablauf des Traumes wirklichkeitsnahe wiederzugeben vermögen, ist es gewöhnlich nicht möglich, sich die eigentümliche Traumatmosphäre zu vergegenwärtigen und diese anderen Personen zu vermitteln. Der Dichter Carl Spitteler sagte: »Träume lassen sich ja überhaupt nicht erzählen; sie zerrinnen, wenn der nüchterne Verstand sie mit Worten anfaßt.« [14]
 
Wie ist nun der Durchschnittstraum beschaffen? Wovon träumt der einfache »Mann von der Straße«? Nietzsche irrte, als er schrieb: »Man träumt gar nicht - oder interessant.«[15] Träume sind in den meisten Fällen banal und uninteressant. Diese Erkenntnis beruht auf ausgedehnten Analysen der amerikanischen Forscher Hall, Van de Castle und Snyder. Hall untersuchte die zu Hause niedergeschriebenen Traumberichte von 1000 Personen, Snyder die Traumberichte von 650 Personen, die im Schlaflabor aus dem REM-Schlaf geweckt wurden. Die Untersuchungen dieses ansehnlichen Traummaterials zeigten, daß nur ein kleiner Teil der Träume jene bizarren und phantastischen Züge trug, die wir gewöhnlich den Traumvorgängen zuschreiben. Offensichtlich sind es gerade diese seltenen Träume, die uns in Erinnerung bleiben, während wir die gewöhnlichen Träume vergessen. Die genannten Studien ergaben aber auch andere interessante Ergebnisse: So zeigte es sich, daß in den allermeisten Träumen mindestens eine schon bekannte Person vorkommt. In ungefähr einem Drittel aller Träume sind die Personen oder der Träumende selbst irgendwie tätig, indem sie sprechen, zuhören oder zuschauen, in einem weiteren Drittel bewegen sie sich gehend oder fahrend. Körperliche Aktivität ist meistens nicht, wie im Wachleben, mit Mühsal verbunden, sondern geht leicht und mühelos vor sich. Im Unterschied zum Wachzustand kommen Routine-Tätigkeiten wie Putzen, Handarbeit oder Maschinenschreiben im Traume selten vor. Die Träume haben mehr negative als positive Inhalte. Unglück, Mißerfolg und Versagen sind häufiger als Glück und Erfolg. Aggressive Begegnungen kommen öfters vor als freundliche Kontakte. Aber sogar bei sehr aufregenden Vorgängen sind die begleitenden Gefühle auffällig gedämpft und entsprechen in ihrer geringen Intensität keineswegs der Dramatik der Situation. Aus mehr als einem Drittel der Träume wird über Furcht und Angst berichtet, während erfreuliche Gefühlsregungen seltener sind.
 
Kinder schrecken hin und wieder aus Angstträumen auf und haben dann Mühe, wieder einzuschlafen. Wie wir bereits gesehen haben, ist ihr REM-Schlafanteil höher als derjenige Erwachsener. Wovon träumen Kinder? Dieser interessanten, aber auch anspruchsvollen Frage ist der amerikanische Schlaf- und Traumforscher David Foulkes nachgegangen, indem er Traumberichte von Kindern verschiedener Altersklassen systematisch sammelte und untersuchte. Bei kleinen Kindern ist es besonders schwierig, einen verläßlichen Traumbericht zu erhalten. Ein Problem besteht darin, daß nicht immer eindeutig feststellbar ist, ob das Kind Traumerlebnisse von wachen Erlebnissen zu unterscheiden vermag. Hinzukommt, daß die ohnehin schwierige sprachliche Mitteilung eines Traumes durch das begrenzte Ausdrucksvermögen des Kindes noch problematischer wird.
 
Die unterste, von Foulkes systematisch untersuchte Altersklasse umfaßt Drei- bis Vierjährige. Von diesen Kindern waren in der Regel nur kurze Traumberichte zu erhalten, die wenig bewegt und gefühlsbetont waren. Oft ging es im Traum um Spiele in bekannter Umgebung, häufig kamen Tiere vor. In der Gruppe der Fünf- bis Sechsjährigen, die bereits im Kindergartenalter waren, ergaben sich doppelt so lange Traumberichte wie bei den Jüngeren. Im Traum war mehr Bewegung und Aktivität enthalten, die vorkommenden Personen waren vor allem Familienmitglieder und Bekannte. Die Rolle des Träumers selbst war jedoch auffällig passiv. Interessanterweise zeigten sich in diesem Alter Unterschiede zwischen Träumen von Mädchen und Buben: Freundliche Kontakte, angenehme Gefühle und ein »Happy-End« des Traumes waren bei Mädchen häufiger, unangenehme und konflikthafte Themen bei den Buben. Diese Unterschiede waren bei sieben- bis achtjährigen Kindern nicht mehr nachzuweisen.
 
Im Vergleich zur jüngeren Altersklasse wurde der Träumende im frühen Schulalter häufiger selbst die handelnde Hauptperson. Im Alter von neun bis zwölf Jahren (Präadoleszenz) spielten Träume im allgemeinen zu Hause, im Freien oder in der Schule. Die beteiligten Personen waren Familienmitglieder oder Spielkameraden, und bei Buben kamen häufig unbekannte Personen männlichen Geschlechts vor. Im Vergleich zu jüngeren Altersklassen waren angenehme Gefühle häufiger. Bei den älteren Buben kamen aggressive Träume doppelt so oft vor wie bei den Mädchen. In der Adoleszenz (Dreizehn- bis Fünfzehnjährige) war ein angenehmer Inhalt von Träumen wieder weniger häufig (besonders bei Buben), und die bizarren Züge nahmen zu. Familienmitglieder kamen seltener vor.
 
Insgesamt geht aus diesen Untersuchungen hervor, daß, entgegen oft geäußerten Vermutungen, Träume von Kindern nicht überwiegend beunruhigend und angsterregend sind. Ihre Veränderungen vom Kleinkindalter bis zur Adoleszenz spiegeln offenbar kognitive Entwicklungsstufen auf dem Hintergrund der realen Lebenssituation (Elternhaus, Schule, Entwicklung der persönlichen und geschlechtlichen Identität) wider.
 
Abb. 4.1: »Traum«. (M.C. Escher) (72k JPG file)
 
 
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Gibt es einen »Traum-Schlaf«?
 
Bis zur Entdeckung des REM-Schlafes war die Traumforschung auf Traumberichte angewiesen, die der Schläfer morgens nach dem Erwachen aufzeichnete. Erst die Erkenntnis, daß in einem großen Teil der REM-Schlaf-Episoden geträumt wird, brachte für die experimentelle Traumforschung einen ungeheuren Aufschwung. Ein esoterisches Interessengebiet, die Domäne weniger Spezialisten, war gleichsam über Nacht zu einem neuen Forschungsobjekt geworden, das mit wissenschaftlichen Methoden untersucht werden konnte. Diese Entwicklung wurde vor allem durch die neue Möglichkeit gefördert, Traumberichte unmittelbar aus dem Traumgeschehen zu erhalten. Zur Überraschung vieler, die überzeugt gewesen waren, selten oder nie zu träumen, stellte es sich heraus, daß jeder Mensch während der Nacht mehrmals träumt. Fragen, wie etwa nach der Traumdauer, die hitzige Dispute ausgelöst hatten, konnten nun experimentell geklärt werden.
 
In der älteren Literatur wurde vielfach die Meinung vertreten, in Wirklichkeit spiele sich auch ein langer Traum innerhalb von Sekundenbruchteilen ab. Diese Ansicht wurde durch bestimmte Traumberichte unterstützt, wie jenen von Maury, der von Sigmund Freud folgendermaßen beschrieben wird:
 
Er (Maury) war leidend und lag in seinem Zimmer zu Bett; seine Mutter saß neben ihm. Er träumte nun von der Schreckensherrschaft zur Zeit der Revolution, machte greuliche Mordszenen mit und wurde dann endlich selbst vor den Gerichtshof zitiert. Dort sah er Robespierre, Marat, Fouquier- Tinville und alle die traurigen Helden jener gräßlichen Epoche, stand ihnen Rede, wurde nach allerlei Zwischenfällen, die sich in seiner Erinnerung nicht fixierten, verurteilt und dann von einer unübersehbaren Menge begleitet, auf den Richtplatz geführt. Er steigt aufs Schafott, der Scharfrichter bindet ihn aufs Brett; es kippt um; das Messer der Guillotine fällt herab; er fühlt, wie sein Haupt vom Rumpfe getrennt wird, wacht in der entsetzlichsten Angst auf und findet, daß der Bettaufsatz herabgefallen war und seine Halswirbel, wirklich ähnlich wie das Messer einer Guillotine, getroffen hatte. [16]
 
Dieser Bericht ließ vermuten, daß das äußere Ereignis - das Herabfallen des Bettaufsatzes - den Traum ausgelöst hatte, der dann innerhalb von Sekundenbruchteilen und gleichsam rückwirkend vor sich gegangen wäre.
 
Wenige Jahre nach der Entdeckung des REM-Schlafes machten sich Dement und Mitarbeiter daran, die tatsächliche Traumdauer zu untersuchen. Sie weckten Versuchspersonen entweder gleich nach Beginn einer REM-Schlaf-Episode oder erst nach längerem REM-Schlaf. Dabei ergab sich, daß die Länge der Traumberichte der Dauer des REM-Schlafs entsprach. Frühe Weckungen ergaben kurze, späte Weckungen lange Träume. Nach sehr langen REM-Schlaf-Episoden (30-50 Minuten) hatte die Versuchsperson zwar das Gefühl, ungewöhnlich lange geträumt zu haben, ihr Traumbericht war indessen nicht länger als bei einer Weckung nach 15 Minuten REM-Schlaf. Offenbar beginnt der Traum im Laufe einer längeren Episode bereits aus dem Gedächtnis zu entschwinden. In anderen Versuchen besprühten Dement und Wolpert den Schläfer mit einem feinen Wasserstrahl, um auf diese Weise im Traum eine Marke zu setzen. Dieser Sinnesreiz wurde bei einem Teil der Versuchspersonen tatsächlich in den Traum eingebaut, wie aus dem folgenden Traumbericht ersichtlich ist:
 
Ich schritt hinter der vorangehenden Dame einher, als sie plötzlich zusammenbrach und Wasser auf sie tropfte. Ich rannte zu ihr hinüber und Wasser tropfte auf meinen Rücken und Kopf. Das Dach war leck. Ich war sehr erstaunt, daß sie zu Boden gestürzt war und folgerte, daß Mörtel auf sie gefallen sein mußte. Ich schaute hinauf und da war ein Loch im Dach. Ich zog sie hinüber auf die Seite der Bühne und begann, die Vorhänge zu ziehen. Da erwachte ich. [17]
 
Die Zeitdauer zwischen dem Sinnesreiz und dem Aufwecken wurde auch hier mit dem Traumbericht verglichen. Wiederum ergab sich, daß das Traumgeschehen ungefähr der realen Zeit entsprach.
 
Eine weitere, naheliegende Frage war, ob sich der Traumvorgang in irgendwelchen meßbaren Körperfunktionen äußert. Stehen zum Beispiel die raschen Augenbewegungen des REM-Schlafs mit dem Trauminhalt in Zusammenhang? Erste Befunde von Dement schienen diese Vermutung zu bestätigen. Er beschrieb einen Versuch, in welchem nach einer langen Sequenz von Augenbewegungen mit regelmäßig wechselnder Blickrichtung die Versuchsperson geweckt wurde. Diese berichtete, im Traum einem Ping-Pong-Spiel mit einem längeren Schlagabtausch zugeschaut zu haben. Aus anderen Untersuchungen ergab sich indessen kein solcher Zusammenhang zwischen Augenbewegungen und Trauminhalt. Daher erscheint eine direkte Beziehung zwischen diesen Vorgängen eher unwahrscheinlich. Rasche Augenbewegungen, die sowohl für Säuglinge als auch für Tiere typisch sind, scheinen vielmehr ein Teil sogenannter phasischer Vorgänge des REM-Schlafs zu sein, zu denen auch plötzliche Zuckungen der Finger oder Blutdruckänderungen gehören. Rückschlüsse von meßbaren körperlichen Vorgängen auf das Traumgeschehen sind bis heute nicht möglich.
 
Bei Freud lesen wir, daß der traumlose Schlaf der beste, der einzig richtige sei. Aber gibt es einen traumlosen Schlaf und einen »Traum-Schlaf« ? Auch von Schlafforschern wird der REM-Schlaf zuweilen etwas ungenau als »Traum-Schlaf« bezeichnet, da in etwa 80 Prozent der Weckungen aus diesem Stadium Träume berichtet werden. Experimentelle Untersuchungen zeigten aber, daß das eine unzulässige Vereinfachung ist. Traumberichte gibt es nämlich auch in bis zu 74 Prozent der Weckungen aus dem Non-REM-Schlaf.
 
Allerdings scheinen sich die Träume in den beiden Stadien zu unterscheiden: Traumberichte aus dem REM-Schlaf sind im allgemeinen lebhafter, bizarrer, komplexer und gefühlsbetonter als solche aus dem Non-REM-Schlaf, in welchem eher rationale, realistische und Gedanken-ähnliche Erlebnisse vorkommen. Beurteiler von Traumberichten, die über die Schlafstadien nicht Bescheid wußten, konnten allein aufgrund der Trauminhalte Berichte aus dem REM-Schlaf von solchen aus dem Non-REM-Schlaf unterscheiden. Der amerikanische Schlaf- und Traumforscher John Antrobus meint indessen, daß sich Traumberichte aus den beiden Schlafstadien vor allem in ihrer Länge, nicht aber im Inhalt unterscheiden. Nach Antrobus bieten die längeren Berichte aus dem REM-Schlaf mehr Gelegenheit für farbige Begebenheiten als die kurzen Non-REM-Berichte. Diese Unterschiede in der Länge der Traumberichte könnten darauf beruhen, daß die Erinnerungsfähigkeit nach Erwachen aus dem REM-Schlaf besser ist als nach Erwachen aus dem Non-REM-Schlaf.
 
Die Beziehung zwischen Traum und Schlafstadium bietet einen weiteren interessanten Aspekt: Traum-ähnliche Erlebnisse kommen nämlich nicht nur während des eigentlichen Nachtschlafs, sondern auch beim Einschlafen und Aufwachen vor. Robert Musil beschreibt in den Tagebüchern das eigentümliche Hin und Her zwischen der Gedanken- und Traumwelt beim Erwachen:
 
Traumdenken. Frühmorgens wieder an mir beobachtet, leider das meiste vergessen. Es ist halb geträumt, halb gedacht. Geträumt, aber nicht ohne willentliche oder tagartige Leitung.
 
Es war irgend etwas mit Nikotin. Ich war wach geworden und hatte unter irgendeinem physiologischen Eindruck mich mit der Absicht beschäftigt, einen Tag wenig zu rauchen. Dann glitt das wieder in den Halbschlaf zurück, und dann, plötzlich wieder klar geworden, scheinbar von dem Interesse selbst geweckt, wollte ich mir etwas merken. Es war ein fürchterliches Wort für Nikotinwirkung; Stunden danach ist mir nur die Vorstellung eines aus Drähten oder Fäden bestehenden Körpermodells, wie im Geometrieunterricht, in Erinnerung, von dem wohl das Gehirn durchsetzt war, und ein Wort dafür, das von furchtbarer Eindringlichkeit war.
 
Ich glaube, schon die erste Erinnerung daran war nicht anders; ich erwischte nur noch den Schwanz oder das Kielwasser, wie ich das kenne. [18]
 
Die psychischen Veränderungen während des Einschlafvorgangs wurden von den Amerikanern Gerald Vogel und David Foulkes eingehend untersucht. Verschiedene Phasen lassen sich unterscheiden. Als erstes ist ein Verlust der Kontrolle über den Gedankenablauf zu beobachten. Im Wachen denken wir über dies und jenes nach und lenken unsere Gedanken dabei in eine gewollte Richtung. Beim Einschlafen schweifen die Gedanken ab und schlagen eigene Wege ein. Weckt man eine Versuchsperson aus einer späteren Phase des Einschlafens, so beobachtet man, daß ihre Orientierung in Raum und Zeit nicht mehr vorhanden ist. Der Schläfer ist sich also nicht mehr bewußt, jetzt um 11.00 Uhr abends in seinem Bett zu liegen. In einer noch späteren Einschlafphase treten dann erste, eigentliche Traumbilder auf, bei denen die Einsicht fehlt, daß das Erlebte nicht der Wirklichkeit entspricht. Traumberichte aus der Einschlafphase sind jenen aus dem REM-Schlaf so ähnlich, daß sie nicht auseinandergehalten werden können.
 
Das Traumerleben ist also keineswegs auf den REM-Schlaf beschränkt, sondern kommt auch während des Einschlafens, Aufwachens und im Non-REM-Schlaf vor. Man kann nun noch einen Schritt weitergehen und fragen, ob traumartige Vorgänge nicht auch im Wachen möglich sind. Wenn wir tagsüber entspannt und mit geschlossenen Augen sitzen oder liegen, beginnen unsere Gedanken zu wandern. Dabei können wir uns so sehr in unsere Vorstellungen und Phantasien verlieren, daß wir uns gar nicht mehr bewußt sind, wo wir uns befinden. Es gibt tatsächlich Hinweise, daß Tag- und Nachtträume in ihrer Art und in ihrem Inhalt ähnlich sind. Traum- und Wachbewußtsein scheinen sich demnach nicht grundsätzlich voneinander zu unterscheiden. Nach »innen« gerichtetes Denken und Vorstellungen, die traumähnlichen Charakter besitzen, kommen auch im Wachen vor und können beispielsweise die spielerische und künstlerische Phantasie mitbestimmen.
 
Zum Schluß dieses Abschnitts wollen wir noch kurz auf den Alptraum eingehen. Er ist ein angsterfülltes Traumerleben, das sich gewöhnlich in der zweiten Nachthälfte im REM-Schlaf abspielt und mit einem plötzlichen Aufschrecken endet. Man erinnert sich an den Traum, weiß aber, daß es nur ein Traum war. Anders verhält es sich beim sogenannten Pavor Nocturnus, der in der Tiefschlafphase des Non-REM-Schlafes vorkommt. Der Träumende schreckt mit einem markerschütternden Schrei aus dem Schlaf und sitzt dann, rasch atmend, schweißbedeckt und angsterfüllt im Bett. Selbst nach dem Erwachen ist er noch nicht ganz bei sich und kann das Traumerlebnis nicht mitteilen. Bei Kindern kann es fünf bis zehn Minuten dauern, bis sie sich vom Schreckerlebnis beruhigen. Morgens ist die Erinnerung an dieses Vorkommnis verschwunden. Beide Arten von Angstträumen zeigen typische Unterschiede, die für das Erwachen aus dem REM-Schlaf und aus der Tiefschlafphase des Non-REM-Schlafs charakteristisch sind. Erwacht man aus einer REM-Schlafepisode, so ist man sofort präsent und orientiert. Dem Erwachen aus dem Tiefschlaf folgt dagegen eine Phase der Schlaftrunkenheit, mangelnder Orientierung und eingeschränkter Erinnerungsfähigkeit.
 
Abb. 4.2: »Der Traum« (Pablo Picasso, 1932) (50k JPG file)
 
 
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Träume - Sinn oder Unsinn?
 
Ist der Traum bloß eine Sinnestäuschung oder enthüllt er bedeutungsvolle Sinnzusammenhänge? Seit sich Denker mit dieser Frage beschäftigen, gibt es überzeugte Anhänger beider Auffassungen. Wir könnten meinen, Sigmund Freud zu vernehmen, wenn schon Plato sagt: »... daß also eine heftige, wilde und gesetzlose Art von Begierden in einem jeden wohnt, und wenn auch einige von uns noch so gemäßigt erscheinen; und dieses nun eben wird in Träumen offenbar.«[19] Aristoteles sieht in den Träumen lediglich das Fortbestehen von Sinneseindrücken, die »wie kleine Strudel, die in Flüssen entstehen ... oft so bleiben, wie sie zu Beginn waren, oft aber miteinander kollidieren und so neue Formen annehmen.« [20]
 
Aristoteles gibt hier bereits eine Theorie der Traumentstehung, die bei den Positivisten des 19. Jahrhunderts großen Anklang finden sollte. Die naturwissenschaftliche Psychologie des letzten Jahrhunderts war an der Erforschung des Traumes kaum interessiert. Fechner meinte abschätzig, es sei, » als ob (im Traum) die psychologische Tätigkeit aus dem Gehirne eines Vernünftigen in das eines Narren übersiedelte«.[21] Der Traum wurde bloß als Nachwirkung von Sinnesreizen im Wachen und als Folge von Körperbewegungen im Schlafe aufgefaßt. Die Verzerrungen der Traumbilder wurden als eine psychische Minderleistung im Schlaf angesehen, die sich nach Maury in einer »ganzen Reihe von Entartungen (degradations) der denkerischen und vernünftigen Fähigkeiten«[22] äußerten. Allerdings führten solche Überlegungen auch zu konkreten Experimenten, in welchen der Einfluß von Sinnesreizen auf den Traum untersucht wurde. Die Interpretation solcher Versuche ließ jedoch oft zu wünschen übrig. Es ist amüsant, heute einen von Freud zitierten Befund von Maury zu lesen:
 
» 1 ) Er wird an den Lippen mit einer Feder gekitzelt. - Träumt von einer schrecklichen Tortur;
 
2) Man wetzt eine Schere an einer Pinzette. - Er hört Glockenleuten, dann Sturmläuten und ist in die Junitage des Jahres 1848 versetzt.
 
8) Man gießt ihm einen Tropfen Wasser auf die Stirn. - Er ist in Italien, schwitzt heftig und trinkt den weißen Wein von Orvieto.« [23]
 
In den letzten Jahren werden neue Erkenntnisse der Neurophysiologie zur Erklärung des Traumgeschehens herangezogen, wobei nicht mehr die Sinnesreize, sondern die im Gehirn selbst entstehenden Vorgänge die bestimmende Rolle spielen. So machten die beiden amerikanischen Psychiater und Schlafforscher Robert McCarley und Allan Hobson den Vorschlag, daß für die Traumbilder und ihre sprunghaften Veränderungen im REM-Schlaf die Aktivierung jener Nervenbahnen verantwortlich sei, die mit der Sehfunktion und Blickbewegung zusammenhängen. Bewegungseindrücke im Traum sind, gemäß dieser Hypothese, auf Erregungen in motorischen Hirngebieten zurückzuführen, während gefühlsmäßige Komponenten und Gedächtnisinhalte des Traums mit anderen Gebieten des Vorderhirns in Zusammenhang gebracht werden. Der bizarre Charakter von Traumerlebnissen wird der gleichzeitigen Aktivierung verschiedener Systeme und den sich daraus ergebenden widersprüchlichen Informationen zugeschrieben. Der Traum als Ganzes wird als Synthese aus diesen einzelnen Elementen betrachtet. Leider läßt sich diese Hypothese nur schwer experimentell überprüfen und ist im übrigen auch nur auf Träume im REM-Schlaf zugeschnitten. Bezeichnend für diesen neurobiologischen Klärungsversuch bleibt, daß der Traum als eine grundsätzlich sinnlose Begleiterscheinung von Gehirnprozessen verstanden wird, wobei die Analyse des Trauminhalts bestenfalls dazu dienen kann, Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Gehirns zu erlangen.
 
Schon früher haben Autoren versucht, die Traumentstehung aufgrund von Körpervorgängen zu erklären, wobei sie jedoch dem Traum auch eine sinnvolle biologische Funktion zuerkannten. So sah schon Kant in den Träumen eine »zweckmäßige Anordnung der Natur« und vielleicht sogar ein »Heilmittel«!
 
So würde ich fragen, ob nicht die Träume (ohne die niemals der Schlaf ist, ob man sich gleich nur selten derselben erinnert) eine zweckmäßige Anordnung der Natur sein mögen, indem sie nämlich bei dem Abspannen aller körperlichen bewegenden Kräfte dazu dienen, vermittelst der Einbildungskraft und der großen Geschäftigkeit derselben (die in diesem Zustand mehrenteils bis zum Affecte steigt) die Lebensorgane innigst zu bewegen: so wie sie auch bei überfülletem Magen, wo diese Bewegung desto nöthiger ist, im Nachtschlafe gemeiniglich mit desto mehr Lebhaftigkeit spielt; und daß ohne diese innerlich bewegende Kraft und die ermüdende Unruhe, worüber wir die Träume anklagen (die doch in der That vielleicht Heilmittel sind), der Schlaf selbst im gesunden Zustande, wohl gar ein völliges Erlöschen des Lebens sein würde. [24]
 
Aber kehren wir wieder zur Neuzeit zurück. In seinem Traummodell nimmt das an der Universität Zürich tätige Forscherehepaar Marta Koukkou und Dietrich Lehmann an, daß im Schlafgedächtnis alte, aus der Kindheit stammende Inhalte und Denkstrategien mit neuer, aktueller Information in Verbindung gebracht werden. Der Traum wird als das Ergebnis einer Bearbeitung der Gedächtnisspeicher mit verschiedenen Strategien verstanden. Er stellt deshalb nicht einen zufälligen, sondern einen sinnvollen Vorgang dar. Diese Auffassung des Traumes hat gewisse Ähnlichkeiten mit Jouvets Hypothese, daß im REM-Schlaf genetisch determinierte Information (angeborenes Instinktverhalten) mit neuerworbener Information (Sinneseindrücke, erworbene Erfahrung) in Verbindung gebracht wird. Auf diese These, die sich zunächst und vor allem auf den REM-Schlaf und nicht auf den Traum bezieht, werden wir im zwölften Kapitel zurückkommen.
 
In allerneuester Zeit haben die Molekularbiologen Francis Crick und Graene Mitchison einen weiteren Versuch unternommen, das Wesen der Träume im REM-Schlaf zu erklären. Sie betrachten den Traum als einen »Selbstreinigungsversuch« des Gehirns, der zur Beseitigung von aus der Wachzeit stammenden »parasitären« Störfaktoren dient. »Wir träumen, um zu vergessen«, schreiben die Autoren und meinen dabei das Entfernen unbrauchbarer Information. Während also der Traum wiederum als ein biologisch sinnvoller Vorgang verstanden wird, der die Funktion des Zentralnervensystems gewährleistet, wird der Trauminhalt als ein Zufallsprodukt betrachtet, das nicht sinnvoll interpretiert werden kann. Wie für die anderen Hypothesen gilt auch für diese, daß sie sich nur schwer experimentell überprüfen läßt.
 
Nimmt man an, dem Traum komme eine wesentliche biologische Funktion zu, dann könnte man daraus folgern, daß das Träumen ein unabdingbar notwendiger Vorgang sei. Schon Robert meinte:
 
»Ein Mensch, dem man die Fähigkeit nehmen würde, zu träumen, müßte in gegebener Zeit geistesgestört werden, weil sich in seinem Gehirn eine Unmasse unfertiger, unausgedachter Gedanken und seichter Eindrücke ansammeln würde, unter deren Wucht dasjenige ersticken müßte, was dem Gedächtnisse als fertiges Ganzes einzuverleiben wäre.« [25]
 
Als Dement im Jahre 1960 berichtete, der REM-Schlafentzug führe zu psychischen Störungen, nahm die wissenschaftliche Fachwelt dieses Ergebnis ohne Überraschung zur Kenntnis. Die Untersuchung bestätigte lediglich, was schon seit langem gemeinhin angenommen worden war. Dieser einleuchtende Zusammenhang konnte auch dann nicht wirksam entkräftet werden, als mehrere fundierte Nachuntersuchungen die Resultate nicht bestätigten und Dement selbst sich von seiner früheren Feststellung distanzierte. So ist heute noch in Lehrbüchern von der verheerenden Wirkung des »Traumschlafentzugs« zu lesen. Diese Ansicht entbehrt aber auch deshalb jeder wissenschaftlichen Grundlage, weil man inzwischen weiß, daß Träume in allen Schlafstadien vorkommen und darum Traumentzug ohne vollständigen Schlafentzug gar nicht möglich ist. Die Frage nach dem Sinn und der Notwendigkeit der Träume muß also weiterhin offen bleiben.
 
Stellen wir nun zum Schluß den Traum noch in einen etwas breiteren, geschichtlich-kulturellen Zusammenhang. Friedrich Hebbel meinte: »Der Traum ist der beste Beweis dafür, daß wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind, als es scheint.«[26] Seit jeher galt der Traum als Tor zu einer anderen Welt. In Homers Ilias und Odyssee erscheinen im Traum Götter in Menschengestalt, um den Sterblichen einen Auftrag oder eine Warnung zukommen zu lassen. So zeigt sich beispielsweise die Göttin Athene der Schlafenden Nausikaa in Gestalt ihrer besten Freundin, um sie aufzufordern, bei Tagesanbruch zum Waschen an den Strand zu fahren, um den schiffbrüchigen Odysseus aufzunehmen.
 
Träume waren aber auch für die damalige Heilkunst außerordentlich wichtig:
 
Bei den Griechen gab es Traumorakel, welche gewöhnlich Genesung suchende Kranke aufzusuchen pflegten. Der Kranke ging in den Tempel des Apollo oder des Äskulap, dort wurde er verschiedenen Zeremonien unterworfen, gebadet, gerieben, geräuchert, und so in Exaltation versetzt legte man ihn im Tempel auf das Fell eines geopferten Widders. Er schlief ein und träumte von Heilmitteln, die ihm in natürlicher Gestalt oder in Symbolen und Bildern gezeigt wurden, welche dann die Priester deuteten. [27]
 
Wir wissen auch, daß sich die alten Ägypter intensiv mit Träumen befaßten und diese auch sehr konkret deuteten. Auf einem Papyrus aus jener Zeit finden wir folgende Traumdeutungen:
 
Wenn (im Traum) eine Frau ihren Mann küßt, wird sie in Schwierigkeiten geraten;
 
wenn ein Esel mit ihr kopuliert, wird sie für einen schweren Fehler bestraft werden;
 
wenn ein Ziegenbock mit ihr kopuliert, wird sie bald sterben;
 
wenn sie eine Katze gebärt, wird sie viele Kinder haben;
 
wenn sie einen Hund gebärt, wird sie einen Knaben haben. [28]
 
Eines der berühmtesten Traumbücher stammt von Artemidorus im zweiten Jahrhundert nach Christus. Zahlreiche spätere Bücher gleicher Art stützen sich auf dieses Werk. Artemidorus gibt direkte Übersetzungen von Traumsymbolen. Beispielsweise bedeutet ein im Traum vorkommender Fuß einen Sklaven, ein Kopf den Vater. Auch auf die Bedeutung für die Zukunft wird hingewiesen: Ein Delphin im Wasser ist ein gutes Omen, ein Delphin auf dem Land ein schlechtes.
 
In vielen Kulturen findet man die Ansicht, Träume ermöglichten den Kontakt mit einer anderen Wirklichkeit. In der altindischen vedischen Literatur wurden Träume als ein Zwischenzustand der Seele zwischen Diesseits und Jenseits betrachtet. Es wurde angenommen, die Seele verlasse im Schlaf den Körper im Schutze des Atems und schwebe in einem Raum, von dem aus sie beide Welten überblickt. Erst in der Neuzeit kam es zu einem grundlegenden Wandel in der Betrachtungsweise des Traumes: Jene »andere« Wirklichkeit wurde nicht mehr als ein Bereich außerhalb des Körpers, sondern als ein Teil der Seele selbst aufgefaßt. Wenn aber der Traum nicht äußere Eingebung, sondern ein Erzeugnis in uns selbst ist, stellt sich die Frage, ob wir für dieses Produkt auch die Verantwortung tragen müssen. Hafner lehnte dies rigoros ab:
 
Wir sind für Träume nicht verantwortlich, weil unserem Denken und Wollen die Basis entrückt ist, auf welcher unser Leben allein Wahrheit und Wirklichkeit hat . . . Es kann darum kein Traumwollen und Traumhandeln Tugend oder Sünde sein. [29]
 
Dieser Ansicht widersprach Nietzsche mit bissigem Hohn:
 
In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer eigen als eure Träume. Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer - in diesen Komödien seid ihr alles selber! [30]
 
Freud hat diese Problematik in seiner gewohnten Klarheit und brillant einfachen Formulierung umrissen und dabei folgende Frage gestellt:
 
Wir gehen in der wissenschaftlichen Betrachtung des Traumes von der Annahme aus, daß der Traum ein Ergebnis unserer eigenen Seelentätigkeit ist; doch erscheint uns der fertige Traum als etwas Fremdes, zu dessen Urheberschaft zu bekennen es uns so wenig drängt, daß wir ebenso gerne sagen: »Mir hat geträumt« wie: »Ich habe geträumt.«. Woher rührt diese »Seelenfremdheit« des Traumes? [31]
 
Er hat auf diese Frage in seinem grundlegenden Werk »Die Traumdeutung« eine Antwort gegeben. Der Trauminhalt habe nicht nur jene offensichtliche, manifeste Seite, die in Traumberichten zum Ausdruck kommt, sondern zusätzlich noch einen versteckten, latenten Aspekt, der nicht ohne weiteres erkennbar sei. Um ihn zu erfassen, bedürfe es weiterer persönlicher Informationen über den Träumenden. Vogel und Foulkes illustrieren im folgenden schönen Beispiel die Bedeutung dieser Freudschen Überlegungen:
 
Ein Mann träumt, er fahre auf einem Fahrrad. Mit diesem manifesten Trauminhalt läßt sich nicht viel anfangen. Will man die Bedeutung dieses Traumes erfassen, benötigt man vom Träumenden weitere Angaben. Auf die Frage, was ihm zum Thema »Fahrrad« in den Sinn kommt, gab er zur Antwort: Zwei Dinge kommen mir in den Sinn: Radfahren ist die Lieblingsbeschäftigung meines Sohnes. Dieser geht diesen Herbst von zuhause fort, um eine Hochschule zu besuchen. Ich möchte in der noch verbleibenden Zeit mehr mit ihm beisammen sein, bevor er das Haus verlässt. Der zweite Gedanke ist, daß mein Vater vor einem Jahr an einer Herzkrankheit gestorben ist. Er benützte ein Fahrrad - Ergometer, um sich fit zu halten. Ich sollte ebenfalls mehr körperliche Übungen machen, um nicht bald das gleiche Schicksal zu erleiden. [32]
 
Die Gedankenassoziationen zeigten, daß dieser Traum nicht nur eine belanglose Episode mit einem Fahrrad war, sondern, daß er eng mit den zwei wichtigsten männlichen Personen im Leben des Träumenden zusammenhing. Dieser zunächst verborgene Aspekt wird aber nur deutlich, wenn der manifeste Inhalt des Traums auf dem Hintergrund der persönlichen Lebenssituation analysiert wird.
 
Es ist zweifellos Freuds großer Verdienst, auf diesen tieferen Sinnzusammenhang nachdrücklich und überzeugend hingewiesen zu haben. Träume sind nicht einfach »Schäume«, sondern vielmehr »Briefe an sich selbst«. Der Traum spricht eine Bildersprache, deren Regeln von der gesprochenen Sprache abweichen. Jedes Traumelement steht mit einer Fülle anderer Gedankeninhalte in Verbindung. Diese Zusammenhänge können unter anderem durch ein Verfahren aufgedeckt werden, das man freie Assoziation nennt. Die Versuchsperson soll dabei ihren Gedanken möglichst freien Lauf lassen und alles spontan berichten, was ihr zu den einzelnen Traumbildern einfällt. In dem Vorgang, der dem Traum zugrundeliegt und den Freud als »Traumarbeit« bezeichnet hat, werden zunächst ganz verschiedene Gedankenelemente in einem Traumbild verdichtet. Neben dieser Verdichtung bedient sich der Traum auch der »Verschiebung« auf andere, scheinbar zusammenhanglose Inhalte. Dieser Vorgang kann nach Freud zur Tarnung kritischer Themen dienen, welche zu emotionsgeladen sind, als daß sie als solche im Traume »zugelassen« werden könnten.
 
Es ist hier nicht der Ort, auf die weiteren Mechanismen der Traumarbeit einzugehen. Wichtig bleibt aber festzuhalten, daß Freud den Traum als eine spezielle, sinnvolle Sprache der Psyche aufgefaßt hat. David Foulkes hat diesen Ansatz in seinem Buch »Die Grammatik der Träume« weitergeführt. Auf der Lehre Freuds basierend, aber auch auf Erkenntnissen der modernen Psychologie und Sprachwissenschaft, hat Foulkes eine Methode entwickelt, um die hinter dem manifesten Trauminhalt verborgenen latenten Strukturen aufzudecken. Neben dem eigentlichen Traumbericht spielen dabei die zum Traum gemachten freien Assoziationen eine wichtige Rolle. Ein auf mathematischen Begriffen aufgebautes Modell dient zur Beschreibung der Umwandlungsvorgänge, die in ihrer Gesamtheit die »Grammatik« des Traumes ausmachen.
 
»Die traumhafte Welt ist nicht weniger wirklich als die wache Welt, nur anders wirklich.« Zusammenfassend könnte man mit Ludwig Klages sagen: Die Analyse des Traumvorgangs erlaubt uns, tiefere Einblicke in die Funktionsweise der Psyche zu gewinnen. Können solche Erkenntnisse auch für den einzelnen nutzbringend sein? Träume spielen in vielen Psychotherapieformen eine wichtige Rolle, da durch sie ein Zugang zu den tieferen Strömungen der Seele gesucht wird. Ein bekannter Ausspruch Freuds lautet: »Die Traumdeutung aber ist die Via Regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben.« [34]
 
Wir wollen diesen königlichen Weg hier nicht weiter verfolgen. Weitere Anhaltspunkte, daß das Traumerleben für die Wachtätigkeiten nützlich sein kann, geben Beispiele sogenannter kreativer Träume. Bekannt ist die Geschichte des Chemikers Friedrich August Kekule, der lange Zeit vergeblich die chemische Struktur von Benzol erforscht hatte. Eines Nachts träumte er von sechs Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und im Kreise drehten. Erwacht stand ihm die Lösung des Problems vor Augen: Wie der Ring der sechs Schlangen besteht Benzol aus einem geschlossenen Ring von sechs Kohlenstoff-Atomen.
 
Obwohl solche schöpferischen Traumleistungen nicht die Regel sind, sagt eine Volksweisheit, daß man ein schwieriges Problem erst einmal »überschlafen« soll. Vielleicht ist auch mit diesem Ratschlag der kreative Aspekt von Träumen angesprochen, der aufgrund der gelockerten Gedankenassoziationen im Schlafe Lösungen finden läßt, die im bewußten Wachleben vergeblich gesucht werden.
 
Der Wunsch, sich die »Macht der Träume« nutzbar zu machen, kommt im Bestreben zum Ausdruck, sogenannte luzide Träume zu haben. Im Unterschied zu gewöhnlichen Träumen ist sich der luzid Träumende bewußt, daß er träumt. Durch dieses Bewußtsein soll er sich bis zu einem gewissen Grade dem Diktat des Traumgeschehens entziehen und sich gleichsam frei in seiner »Traumlandschaft« bewegen können. Daß es tatsächlich die Möglichkeit des luziden Träumens gibt, wurde immer wieder berichtet, konnte indessen wissenschaftlich bisher nicht eindeutig belegt werden.
 
Im Buch von Carlos Castaneda »Die Reise nach Ixtlan« gibt der mexikanische Magier Don Juan seinem Schüler als anfängliche Übung die folgenden Anweisungen: Vor dem Schlafengehen solle er sich vornehmen, im Traum seine Hände zu betrachten und sich dabei aber bewußt werden, daß er träume. Im Traum solle er dann den Blick von den Händen weg auf einen Gegenstand richten, und nach einer Weile solle er ihn dann abermals wieder auf die Hände senken.
 
»Jedesmal, wenn Du etwas in Deinem Traume betrachtest, ändert es seine Form«, sagt Don Juan zu Carlos. »Der Trick, einen Traum selbst zu inszenieren, besteht nicht lediglich darin, die Dinge zu betrachten, sondern ihren Anblick auszuhalten. Das Träumen ist erst wirklich, wenn es einem gelingt, alles scharf zu sehen. Dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen der Tätigkeit im Schlafen und im Wachen.« [35]
 
Nach diesen elementaren Übungen lehrt Don Juan seinen Schüler, im Traum an einen beliebigen Ort zu reisen. Wenige außer Don Juan können sich rühmen, diese Fähigkeit erlangt zu haben. Trotzdem ist das Bestreben, die der Ratio entzogene Traumwelt unter die bewußte Kontrolle zu bringen, ein faszinierender Gedanke.
 
Wir wollen die Frage nach dem Sinn der Träume mit einem völkerkundlichen Exkurs beschließen. Die Senoi waren ein friedfertiges Volk, das noch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts isoliert in den Dschungeln von Malaysia lebte. Sie schrieben den Träumen eine wichtige Bedeutung zu, denn sie betrachteten sie sowohl als einen Spiegel der aktuellen als auch der in Entwicklung begriffenen Lebensvorgänge. Träumte jemand von einem Streit mit seinem besten Freund, wurde dies als ein Zeichen eines unbewußten Konfliktes betrachtet, auch wenn im täglichen Leben nichts davon zu spüren war. Die angemessene Reaktion auf diesen Traum war eine Besprechung des Inhalts sowohl innerhalb der Familie des Träumenden als auch mit dem besagten Freund, sowie ein Geschenk an diesen, um die unbewußte Trübung des Verhältnisses wieder aufzuhellen. In einer solchen Situation wurde zudem ein luzider Traum angestrebt, um darin dem Traumbild des Freundes die Freundschaft zu bezeugen. Die Senoi lehrten ihre Kinder, bedrohliche Traumbilder als einen problematischen Teil von sich selbst zu begreifen. Sie ermunterten, den Angsttraum nochmals zu träumen, entweder um die bedrohliche Traumgestalt zu besiegen oder mit ihr Freundschaft zu schließen, oder, als dritte Möglichkeit, um sich von ihr besiegen zu lassen und auf diese Weise den Konflikt zu überwinden. Stewart beschreibt die Senoi als ein überaus zivilisiertes Volk, praktisch ohne psychische Störungen und kriegerische Auseinandersetzungen. Leider ist die Kultur der Senoi in den Wirren des Zweiten Weltkrieges weitgehend untergegangen.
 
Vielleicht sah auch Friedrich Hölderlin ähnliche Möglichkeiten in den Träumen, als er schrieb: »Ein König ist der Mensch, - wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt.« [36]
 
Abb. 4.3: »Rêve de Jacob« (Miniature tirée de la Bible du Toggenbourg, 15. Jhdt.) (41k JPG file)
 
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