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Das Geheimnis des Schlafs von A. Borbély - Kapitel 8
Buchausgabe © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart (vergriffen)
Ausgabe für das Internet, 1998, A. Borbély, Universität Zürich.
 
Schlaf und Gehirn
 
Was war zuerst da - das Huhn oder das Ei?
Auf den Wechsel von Schlaf und Wachsein bezogen,
welcher der beiden Zustände unterbricht den andern?
Ist der Schlafbeginn ein aktiver Vorgang
oder ist er lediglich das Aufhören des Wachzustandes?
Nathaniel Kleitman, Chicago 1963
 
 
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Schlaf - ein aktiver oder passiver Vorgang?
 
Nach dem Ersten Weltkrieg verbreitete sich in Europa die gefürchtete Viruserkrankung Encephalitis lethargica, die oft mit dem Tode endete. Die Patienten bekamen zu Beginn der Krankheit Fieber und waren erregt. Nach einigen Wochen wechselte das Krankheitsbild: Lethargie, Müdigkeit und vor allem übermäßiger Schlaf rückten in den Vordergrund. Es stellte sich die Frage, welche Gehirnstruktur für das krankhafte Schlafbedürfnis verantwortlich sein könnte. Die Untersuchung des Hirngewebes bei verstorbenen Patienten ergab, daß Veränderungen der Zellen im Zwischenhirn mit der Krankheit einhergingen. War das die Ursache für den übermäßigen Schlaf? Eine eingehende Erforschung der für den Schlaf verantwortlichen Strukturen im Gehirn wurde dann allerdings erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts durch gezielte Tierversuche möglich.
 
Damals war die folgende grundsätzliche Frage Gegenstand einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse: Ist der Schlaf ein passiver Vorgang, der lediglich durch das Verschwinden des Wachzustandes zustande kommt, wie dies bereits der römische Schriftsteller Lucretius behauptet hatte, oder ist er ein aktiver Vorgang, der durch die Erregung bestimmter Hirngebiete zustande kommt? Der belgische Neurophysiologe Frederic Bremer war ein prominenter Verfechter der erstgenannten These. Er versuchte mit seinen Experimenten in den dreißiger Jahren zu belegen, daß der Wachzustand nur aufrechterhalten werden kann, solange Sinnesreize aus der Umwelt das Gehirn aktivieren. Nach Durchtrennung der Nervenbahnen, welche die Sinnesorgane mit dem Gehirn verbinden, beobachtete er einen dauernden Schlafzustand. Dieser Befund unterstützte die Annahme, daß Schlaf ein passiver Vorgang sei, der lediglich auf der Ausschaltung aktivierender Einflüsse beruhe.
 
Walter Hess, Professor für Physiologie an der Universität Zürich und später Nobelpreisträger für Medizin, war der wichtigste Vertreter der gegenteiligen These. Als einer der ersten hatte er eine Methode entwickelt, die es ermöglichte, über feine Metallelektroden, die permanent in bestimmten Gehirnregionen von Versuchstieren implantiert worden waren, die Wirkung elektrischer Reize auf das Verhalten zu erforschen. Dieses Verfahren wird in neuerer Zeit auch in der Medizin verwendet, vor allem, wenn es darum geht, bei Patienten einen epileptischen Herd im Gehirn zu lokalisieren und auszuschalten. Da das Gehirn nicht schmerzempfindlich ist, sind der operative Eingriff und die elektrische Reizung völlig schmerzfrei.
 
Hess beobachtete nun, daß nach Reizung bestimmter Hirnregionen das Versuchstier seinen Ruheplatz suchte, dann seine typische Schlafstellung einnahm und einschlief. Obwohl es jederzeit weckbar war, mußten Weckreize doch eine gewisse Intensität erreichen, um - wie dies auch im spontanen Schlaf der Fall ist - das Tier zum Aufwachen zu bringen. Nach dem elektrischen Reiz hielt der Schlaf oft noch stundenlang an. Wenn die Elektrodenspitzen in bestimmten Gebieten des Zwischenhirns lagen, konnte der Schlaf besonders gut ausgelöst werden.
 
Die Befunde von Hess stellten die Theorie des passiven Schlafs in Frage, denn der Schlaf war offensichtlich durch Erregung von Hirnstrukturen hervorgerufen worden, und beruhte daher nicht lediglich auf dem Entzug aktivierender Sinnesreize. Für Hess war charakteristisch, daß er den Schlaf nicht als einen Vorgang betrachtete, der sich von anderen Körperfunktionen isoliert untersuchen läßt. So schrieb er im Jahre 1931 »Unser eigener Versuch, die Frage nach dem Wesen und dem Mechanismus des Schlafes klarzustellen, geht von der Auffassung aus, daß dieses Problem nicht für sich allein, sondern nur aufgrund einer Analyse der ganzen Funktionsstruktur des Organismus zu lösen ist.«[40] Er unterschied grundsätzlich zwei verschiedene Funktionszustände: den ergotropen Zustand, der vor allem tagsüber vorherrscht und das Lebewesen zu aktiven Verhaltensweisen (z. B. Angriff, Flucht) befähigt, und den trophotropen Zustand, der der Energieeinsparung, der Erholung und dem Schutz vor Überbeanspruchung der Organe dient. Den Schlaf betrachtete er als »...eine differenzierte Funktion, die sich im Rahmen der trophotropen (parasympathischen) Funktionsrichtung vollzieht«. [41]
 
Die Kontroverse, ob der Schlaf als aktiver oder passiver Vorgang zu betrachten sei, wurde Ende der vierziger Jahre neu belebt. Giuseppe Moruzzi, Professor an der Universität Pisa, entdeckte zusammen mit dem amerikanischen Physiologen Horace Magoun, daß die elektrische Reizung im Hirnstamm ein schlafendes Tier augenblicklich weckt. Hier müssen wir kurz auf die Anatomie zu sprechen kommen. Es gibt im Hirnstamm ein weitverzweigtes System von Nervenzellen, deren Nervenfasern sowohl ins Vorderhirn als auch ins Rückenmark ziehen. Es ist als Formatio reticularis (dt. = Netzstruktur) bekannt. Aufgrund der Ergebnisse von Moruzzi erschien diese vor allem als eine aktivierende Struktur, deren Erregung zu einem aufmerksamen Wachzustand führt. Der Schlaf schien demnach durch das Ausbleiben dieser Aktivierung zustande zu kommen und damit ein passiver Vorgang zu sein. Weitere Untersuchungen ergaben jedoch bald, daß die Verhältnisse komplizierter sind. So bewirkte die elektrische Reizung im hinteren (caudalen) Teil der Formatio reticularis nicht ein Aufwachen, sondern löste im Gegenteil Schlaf aus. Die Existenz schlaffördernder und schlafhemmender Gebiete im Hirnstamm wurde in einem eleganten Experiment belegt: Eine Gruppe italienischer Neurophysiologen implantierte Kanülen in jene Blutgefäße, die den hinteren oder vorderen Hirnstamm versorgen. Die Injektion eines Narkosemittels in die vorderen Gefäße bewirkte »Schlaf«, da die aktivierenden Gebiete des Hirnstamms gehemmt wurden. Die Injektion des gleichen Mittels in die hinteren Gefäße bewirkte hingegen interessanterweise ein Aufwachen des schlafenden Tieres, da die schlafbegünstigenden Strukturen gehemmt wurden. Mit dem gleichen Narkosemittel konnte somit, je nach dem Ort seiner Einwirkung, Schlaf oder Wachheit induziert werden!
 
Gemäß unseren heutigen Kenntnissen sind Schlafen und Wachen zwei unterschiedliche, aber »gleichberechtigte« Zustände, bei denen der eine nicht lediglich durch das Fehlen des anderen erklärt werden kann Obwohl es Hirnstrukturen gibt, deren Reizung mehr den einen oder anderen Zustand begünstigt, gibt es kein eigentliches Schlaf- oder Wachzentrum. Wenn wir schließlich noch die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn betrachten, so finden wir, daß die meisten sowohl im Schlaf wie im Wachen aktiv sind und daß sich vor allem das Muster ihrer Entladungsaktivität ändert. Etwas überspitzt könnte man also sagen: Das Gehirn schläft während des Schlafes nicht.
 
Abb. 8.1: Die wichtigsten Hirnregionen. Längsschnitt durch das Gehirn des Menschen. (22k JPG file)
       
 
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Die Monoamintheorie von Professor Jouvet
 
Bis in die sechziger Jahre war das Gehirn als Forschungsobjekt fast ausschließlich die Domäne der Physiologen und Anatomen. Sie untersuchten die Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellgruppen und versuchten aufgrund anatomischer »Landkarten« Rückschlüsse auf Hirnfunktionen zu gewinnen. Die elektrische Reizung bestimmter Hirngebiete und die Ausschaltung umschriebener Bezirke gehörten zu den wichtigsten Methoden in der Physiologie, um die Beziehung zwischen Struktur und Funktion zu erforschen. Bald kam die Möglichkeit hinzu, beim nicht- narkotisierten Versuchstier mit permanent implantierten Elektroden nicht nur die globale elektrische Aktivität von Hirnstrukturen, sondern sogar die Entladungsaktivität einzelner Nervenzellen abzuleiten. Damals war schon wohlbekannt, daß der elektrische Impuls nicht direkt von einer Nervenzelle auf die nächste fortgeleitet, sondern an einer Schaltstelle (Synapse) unterbrochen wird.
 
Dort wird ein chemischer Überträgerstoff (Neurotransmittor) freigesetzt, der den winzigen Synapsenspalt zwischen den Nervenzellen durchquert und eine elektrische Veränderung an der Membran der nächsten Nervenzelle erzeugt. Dieser Vorgang kann wiederum zu einem Nervenimpuls führen. Die Rolle der Transmittoren wurde vorerst an den besonders gut zugänglichen peripheren Nerven außerhalb des Gehirns untersucht, während der komplexe Aufbau des Gehirns keine vergleichbaren Untersuchungen zuließ. Allerdings gab es schon damals, Anfang der sechziger Jahre, Hinweise, daß die Informationsübertragung zwischen Nervenzellen auch im Gehirn durch Transmittoren vermittelt wird.
 
Ein Durchbruch gelang 1964, als schwedische Forscher eine Methode ausarbeiteten, mit der Neurotransmittoren auf Hirngewebsschnitten sichtbar gemacht werden konnten. Damit erhielten die »Landkarten« des Gehirns eine zusätzliche »chemische Dimension«. Man konnte beispielsweise die Nervenzellen, die Noradrenalin als Transmittor benützen, in bestimmten Kerngebieten des Hirnstamms lokalisieren und ihre Fortsätze (Axone) in verschiedenen Strukturen des Vorderhirns verfolgen. Diese neue Möglichkeit bedeutete aber auch, daß die Pharmakologen und Biochemiker für die neurobiologisch tätigen Anatomen und Physiologen zu ernsthaften Konkurrenten oder - in den meisten Fällen zum Glück - zu wertvollen und ernstzunehmenden Partnern in der Hirnforschung wurden. Die Pharmakologen waren mit Substanzen vertraut, mit denen die Wirkung bestimmter Neurotransmittoren gehemmt oder aber auch verstärkt werden konnte. Da auch viele Psychopharmaka die Transmittoren an der Synapse beeinflussen, versuchte man, ihre therapeutische Wirkung auf dieser Grundlage zu verstehen. Schließlich wurden auch Methoden ausgearbeitet, die erlaubten, Substanzen an bestimmte Gruppen von Nervenzellen gezielt heranzubringen und diese, statt wie bisher nur durch elektrische Reize, direkt auf chemischem Wege zu beeinflussen. Die Hirnforschung nahm durch diese Entwicklungen weltweit einen ungeahnten Aufschwung. Bald wurden mehrere wichtige Transmittoren im Gehirn identifiziert und ihre Bahnen bekannt. Diejenigen, die eine einzige stickstoffhaltige Amingruppe in ihrer chemischen Struktur aufweisen, werden als Monoamine bezeichnet. Es sind dies vor allem Noradrenalin, Dopamin und Serotonin.
 
Michel Jouvet, Professor für experimentelle Medizin an der Universität Lyon und Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften, erkannte früh die Bedeutung dieser Entwicklungen für die Schlafforschung. Nachdem er 1959 als einer der ersten den REM-Schlaf an Versuchstieren erforscht hatte, untersuchte er mit elektrophysiologischen und anatomischen Methoden die Schlafmechanismen. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre machte er sich mit seiner Arbeitsgruppe daran, die Rolle der Neurotransmittoren bei der Schlafsteuerung aufzuklären. Durch eine eindrucksvolle Kombination anatomischer, physiologischer, pharmakologischer und biochemischer Methoden gelangte er zu einer Fülle neuer Erkenntnisse, welche die Grundlage seiner Theorie der Schlafregulation, der Monoamintheorie, bildeten.
 
Um dem Leser einen Einblick in diese Arbeiten zu geben, soll ein ausgewählter Aspekt genauer beschrieben werden. Die Zellkörper der den Neurotransmittor Serotonin enthaltenden Nervenzellen befinden sich in umschriebenen Kerngebieten des Hirnstamms, den sogenannten Raphe-Kernen. Die Fortsätze der Nervenzellen laufen sowohl aufsteigend in Gebiete des Vorderhirns als auch absteigend ins Rückenmark, wo sie durch Freisetzung des Neurotransmittors Serotonin mit anderen Zellen in Kontakt treten. Schaltet man die Raphe-Kerne bei Versuchstieren aus, so kommt es zu einer drastischen Reduktion der Schlafzeit oder sogar zu völliger Schlaflosigkeit. Aufgrund dieser Befunde lag die Vermutung nahe, daß die Aktivität der serotonin-haltigen Nervenzellen für den Schlaf von zentraler Bedeutung ist. Wenn diese Annahme zutrifft, so sollte es auch möglich sein, durch eine gezielte chemische Beeinflussung des Serotonin-Stoffwechsels den Schlaf zu hemmen. Wie Abbildung 8.2 zeigt, sind zum Aufbau von Serotonin zwei Schritte nötig: Tryptophan, eine Aminosäure, die wir mit der Nahrung aufnehmen, wird mit Hilfe des Enzyms Tryptophan- Hydroxylase zum 5-Hydroxytryptophan umgebaut, welches die unmittelbare Vorstufe des Serotonins ist. Es ist nun möglich, dieses für den Aufbau von Serotonin unerläßliche Enzym durch die Substanz Parachlorophenylalanin (oder abgekürzt PCPA) zu hemmen. Die Verabreichung von PCPA an Versuchtstiere verhindert also weitgehend den Aufbau von Serotonin, was zur Folge hat, daß serotoninhaltige Nervenzellen ihre Funktion nicht mehr ausüben können. Sowohl Jouvet und Mitarbeiter als auch der damals in den USA tätige Schweizer Physiologe Werner Koella konnten zeigen, daß die Injektion von PCPA bei Versuchstieren eine langdauernde Schlaflosigkeit verursachte.
 
Gibt man diesen Tieren 5-Hydroxytryptophan, kann das Serotonin vorübergehend wieder gebildet werden, da man nun die blockierte Aufbaustufe umgangen hat. Die genannten Forscher beobachteten denn auch, daß die Verabreichung der unmittelbaren Vorstufe von Serotonin beim schlaflosen Tier den Schlaf vorübergehend wieder ermöglicht.
 
Die Versuche bestätigten, daß Serotonin bei der Schlafregulation eine wichtige Rolle spielt. Sie wiesen aber auch auf die interessante Möglichkeit hin, daß durch die Verabreichung von Tryptophan vermehrt Serotonin gebildet und damit der Schlaf begünstigt werden könnte. Tryptophan wurde schon verschiedentlich auf seine schlaf-induzierende Wirkung hin untersucht. Nicht nur am Versuchstier sondern auch bei Menschen ist man dieser Frage nachgegangen, doch sind die Ergebnisse, wie bereits erwähnt (Kapitel 5), im großen und ganzen enttäuschend. Zwar berichteten einige Autoren, daß Tryptophan den Schlaf fördere, doch die Wirkung war auch in diesen Untersuchungen schwach und konnte von anderen Forschern nicht bestätigt werden. Diese negativen Ergebnisse sprechen nicht gegen einen Zusammenhang von Serotonin und Schlaf, sondern belegen vielmehr die Schwierigkeiten, den Serotonin-Stoffwechsel des Gehirns durch die Verabreichung der Vorstufe Tryptophan voraussehbar und gezielt zu beeinflussen. Man weiß heute, daß das in die Blutbahn gelangende Tryptophan gar nicht ohne weiteres ins Gehirn übertritt, da sein Transport aus dem Blut ins Hirngewebe von anderen Substanzen im Blut abhängt.
 
Bis jetzt haben wir uns auf die Rolle von Serotonin konzentriert. Die Monoamintheorie der Schlafsteuerung berücksichtigt indessen auch die Wirkung der Transmittoren Noradrenalin, Dopamin und Acetylcholin. Ohne hier auf weitere Einzelheiten einzugehen, wollen wir festhalten, daß - gemäß diesen Vorstellungen - die Regulation des Schlafes durch das Gleichgewicht und die gegenseitige Beeinflussung verschiedener Neurotransmittor-Systeme erfolgt. Wir werden am Schluß dieses Kapitels nochmals auf diese Frage zurückkommen.
 
Abb. 8.2: Blockierung des Enzyms Tryptophanhydroxylase durch PCPA. Der Neurotransmittor Serotonin wird aus der in der Nahrung vorkommenden Aminosäure Tryptophan gebildet. Zur Umwandlung von Tryptophan in die Serotonin-Vorstufe 5-Hydroxytryptophan ist das Enzym Tryptophanhydroxylase nötig. Wird dieses Enzym durch den Hemmstoff Parachlorophenylalanin (PCPA) blockiert, kann Serotonin nicht mehr gebildet werden. (22k JPG file)
   
 
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Gibt es ein REM-Schlaf-Zentrum?
 
Anfang der sechziger Jahre beobachtete Jouvet, daß die Ausschaltung bestimmter Nervenzellgruppen im Pons (Brückenhirn) - siehe Abbildung 8.1 - zum vollständigen Verschwinden des REM-Schlafs führt. Aus diesen und anderen Befunden schloß er, daß die für den REM-Schlaf verantwortlichen Hirnstrukturen in diesen Gebieten des Hirnstammes lokalisiert sein müßten. Halten wir einen Moment in unseren Ausführungen inne, um uns nochmals die typischen Zeichen des REM-Schlafes bei der Katze zu vergegenwärtigen. Das EEG weist niedrige und rasche Wellen auf, ähnlich wie man sie im Wachen sieht. Die Augen zeigen die bekannten raschen Bewegungen, die Muskelspannung ist, abgesehen von sporadischen Zuckungen, praktisch ganz verschwunden. Nun stellte sich hier die Frage, ob alle diese typischen REM-Schlaf-Veränderungen denselben Ursprung haben oder ob sie durch die Aktivität verschiedener Nervenzell-Systeme bedingt sind.
 
Wie die folgenden, aufsehenerregenden Befunde zeigten, scheint die letztgenannte Möglichkeit zuzutreffen. Wurden nämlich beim Versuchstier bestimmte Nervenzellen im Pons ausgeschaltet, kam es zwar immer noch zum REM-Schlaf, doch die Muskelspannung blieb dabei bestehen. Während des REM-Schlafs zeigten solche Tiere ein bizarres Verhalten: Sie hoben den Kopf, schienen nicht existierende Objekte zu verfolgen und sogar anzugreifen, wichen zurück und zeigten auch Zeichen von Wut oder Angst. Es schien ganz so, als ob die schlafenden Tiere durch den Wegfall der Muskelhemmung ihren REM-Schlaf »auslebten«. Vielleicht sind diese dramatischen Befunde ein Hinweis darauf, daß auch bei Tieren im REM-Schlaf traumähnliche Prozesse vorkommen.
 
Kehren wir nun zu den Neurotransmittoren zurück. Gemäß der Monoamintheorie der Schlafsteuerung sind serotoninhaltige Nervenzellen für das Auslösen einer REM-Schlafepisode, noradrenalin- und acetylcholin-haltige Zellen jedoch für den eigentlichen REM-Schlaf-Ablauf verantwortlich. Die an der amerikanischen Harvard Universität tätigen Schlafforscher und Psychiater Allan Hobson und Robert McCarley haben diese Frage weiter verfolgt und dabei vor allem die Rolle des Neurotransmittors Acetylcholin untersucht. Sie injizierten durch implantierte Kanülen im Pons kleinste Mengen von Carbachol, das ähnlich, aber länger wirkt als der Transmittor Acetylcholin. Die Injektion hatte eine spektakuläre Wirkung: Die Versuchstiere verfielen nämlich während Stunden in einen dem REM-Schlaf sehr ähnlichen Zustand. Aufgrund dieser und anderer Befunde kamen Hobson und McCarley zu dem Schluß, daß sich acetylcholin-haltige Zellen einerseits und noradrenalin- und serotonin-haltige Zellen andererseits gegenseitig beeinflussen und daß durch diese hier nicht näher beschriebene Interaktion der Non-REM-/REM-Schlaf-Zyklus (s. Kapitel 2) zustande kommt.
 
Bisher haben wir vor allem tierexperimentelle Befunde besprochen. Sind diese Resultate auf den Menschen übertragbar? Zumindest bei dem Transmittor Acetylcholin scheint dies tatsächlich der Fall zu sein. Christian Gillin und Natray Sitaram, zwei am amerikanischen National Institute of Mental Health tätige Schlafforscher und Psychiater, untersuchten an Versuchspersonen den Einfluß von acetylcholin-ähnlichen Substanzen auf den REM-Schlaf. Der Schlaf wurde, wie üblich, im Schlaflabor registriert. Zusätzlich wurde aber den Versuchsteilnehmern vor dem Schlafengehen eine Infusionskanüle in die Armvene eingeführt, durch die während des Schlafes von einem Nebenzimmer aus Injektionen vorgenommen werden konnten. Wurde nun kurz nach dem Einschlafen das ähnlich wie Acetylcholin wirkende Arecholin verabreicht, kam es zu einem besonders frühen Auftreten von REM-Schlaf. Wurde jedoch in anderen Versuchsnächten das Medikament Scopolamin injiziert, das die Acetylcholinwirkung im Gehirn blockiert, so kam es zu einer beträchtlichen Verzögerung des REM-Schlafs. Diese Befunde zeigen, daß, ganz ähnlich wie beim Versuchstier, auch beim Menschen der Transmittor Acetylcholin bei der REM-Schlafsteuerung eine wichtige Rolle spielt. In diesem Zusammenhang sei nur nebenbei bemerkt, daß Gillin und Sitaram bei depressiven Patienten ein besonders frühes Auftreten von Schlaf nach Arecholin-Injektion beobachteten. Diese Beobachtung führte zu der Hypothese, daß bei der Depression eine Überempfindlichkeit der Nervenzellen gegenüber dem Transmittor Acetylcholin vorliegen könnte, eine Veränderung, die nicht nur für den Schlaf, sondern auch für das Krankheitsbild an sich von Bedeutung wäre.
 
Abb. 8.3: Eine Katze »lebt ihren REM-Schlaf aus«. Nach Ausschaltung bestimmter Nervenzellen im Hirnstamm fällt die Hemmung der Muskelaktivität im REM-Schlaf weg. Die schlafende Katze hebt den Kopf, steht auf, bewegt sich und scheint nicht existierende Objekte anzugreifen. (Nach einer Filmsequenz von Morrison, 1983.) (29k JPG file)
   
 
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Widersprüche und neue Entwicklungen
 
Die Monoamintheorie der Schlafregulation hatte eine außerordentlich stimulierende Wirkung auf die Schlafforschung der letzten zehn Jahre. Mit ihr kann man auch heute noch eine Vielzahl verschiedenartiger Befunde in einen logischen Zusammenhang bringen. Andererseits haben neuere Untersuchungen Widersprüche zu den ursprünglich formulierten Postulaten aufgedeckt. So haben beispielsweise eigene Untersuchungen an Ratten gezeigt, daß die Behandlung mit dem Serotonin- Synthese-Hemmstoff PCPA nur eine vorübergehende Schlaflosigkeit verursacht, obwohl die Serotonin-Konzentration im Gehirn während längerer Zeit auf tiefe Werte absinkt. Diese Beobachtung weist auf Anpassungsmechanismen im Gehirn hin, die ermöglichen, daß der Schlaf trotz Beeinträchtigung des Serotonin-Systems auftritt. Auch konnten wir gemeinsam mit Irene Tobler zeigen, daß mit PCPA behandelte Tiere sehr wenig schlafen, jedoch wie normale Tiere ihren Tiefschlafanteil erhöhen, nachdem sie während vierundzwanzig Stunden gänzlich am Schlafen gehindert worden waren. Diese Befunde zeigen, daß eine wichtige Komponente der Schlafsteuerung noch intakt ist, obwohl die Serotoninkonzentration im Gehirn stark vermindert wurde. Wie können die Resultate erklärt werden? Wahrscheinlich sind diese und andere Widersprüche mit der Monoamintheorie darauf zurückzuführen, daß die an der Schlafsteuerung beteiligten Transmittoren auch an der Regulation anderer Hirnfunktionen mitwirken. Das läßt sich daran erkennen, daß ein mit PCPA behandeltes Tier neben Schlaflosigkeit auch eine erhöhte Empfindlichkeit auf Schmerzreize und andere äußere Einflüsse sowie vermehrte Aggressivität und ein intensiviertes Sexualverhalten aufweist. Es wäre somit vorstellbar, daß die Schlafstörung nicht durch die Beeinträchtigung der Schlafsteuerung zustandekommt, sondern infolge der Veränderung anderer Gehirnfunktionen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, inwieweit der Schlaf überhaupt als ein isoliertes Phänomen untersucht werden kann und ob das Problem des Schlafes »... nicht für sich allein, sondern nur aufgrund einer Analyse der ganzen Funktionsstruktur des Organismus zu lösen ist.« [42]
 
Die Grundpostulate der Monoamintheorie werden heute auch noch von anderer Seite in Frage gestellt. So waren neben den »klassischen« Transmittoren (Noradrenalin, Serotonin, Acetylcholin usw.) im Jahre 1981 bereits fünfundzwanzig im Gehirn vorkommende Peptide (Bausteine von Eiweißmolekülen) bekannt, die zum Teil ebenfalls eine transmittor-ähnliche Funktion ausüben. Seither wurden noch etliche andere Peptide im Gehirn nachgewiesen. Neuerdings wurden sogar Nervenzell-Systeme identifiziert, in welchen ein »klassischer« Transmittor zusammen mit einem Peptid vorkommt. Dieser Befund hat ein seit langem als gesichert angesehenes Gesetz in der Hirnforschung in Frage gestellt: Man nahm bisher an, daß in einer Synapse nicht mehr als ein Transmittor vorkommt. Damit werden aber auch die vor allem auf den Monoaminen basierenden, relativ einfachen chemischen »Landkarten« des Gehirns zunehmend vielschichtiger und komplexer und die funktionellen Zusammenhänge immer rätselhafter. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, gibt es vermehrt Hinweise, daß gewisse Peptide bei der Schlafregulation maßgeblich beteiligt sind.
 
In der Hirnforschung ist immer wieder zu beobachten, daß nicht nur neue Ideen sondern die Anwendung neuer Meßmethoden zu wichtigen Entdeckungen führen. Wie in vielen anderen Disziplinen der Neurobiologie war auch in der experimentellen Schlafforschung die Registrierung elektrischer Signale eines der wichtigsten Verfahren, um die Zusammenhänge zwischen Gehirnfunktion und Verhalten zu untersuchen. Chemische Veränderungen im Gehirn ließen sich viel schwerer verfolgen, da zur chemischen Analyse in der Regel Hirngewebe entnommen werden muß und somit lediglich eine »Momentaufnahme« des Zustandsbildes möglich ist. Raymond Cespuglio, ein Schlafforscher an der Universität Lyon, hat eine neue, elektro-chemische Meßmethode in die Schlafforschung eingeführt. Spezielle, feine Elektroden werden permanent in bestimmte Hirnregionen plaziert, um auf diese Weise beim schlafenden oder wachen Tier die lokale Konzentration von Neurotransmittoren zu registrieren. Mit der Anwendung dieser Technik sind wir auf dem Wege zu einem »chemischen EEG«, das erlaubt, im Gehirn ablaufende chemische Prozesse kontinuierlich zu registrieren und mit dem Schlaf-/Wach-Zyklus in Zusammenhang zu bringen. Es wird sich bald zeigen, ob mit diesem Verfahren grundlegende neue Erkenntnisse über die chemische Schlafsteuerung im Gehirn gewonnen werden können. Das immer komplexere Bild der chemischen Gehirnorganisation hat zu einer gewissen Rückbesinnung auf die physiologischen Grundlagen geführt. Der Schlaf wird heute wieder vermehrt als ein Prozeß betrachtet, dessen Gesetzmäßigkeiten es zu erforschen gilt, auch wenn die zugrunde liegenden Mechanismen im einzelnen noch unbekannt sind. Der Schlafentzug hat sich dabei als ein außerordentlich nützliches Verfahren erwiesen, um die Steuerung des Schlafs zu untersuchen. Dieser Ansatz hat zu Modellvorstellungen der Schlafregulation geführt, die wir im letzten Kapitel besprechen werden. Neben dieser physiologischen Forschungsrichtung ist aber auch eine »Renaissance« alter chemischer Theorien zu verzeichnen, die bis zum Beginn unseres Jahrhunderts zurückgehen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach körpereigenen Schlafstoffen, ein Problemkreis, dem das folgende Kapitel gewidmet ist.
 
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